Joseph Roth »Plakate«

Joseph Roth, 1938

Nun bin ich krank und sitze im Lehnstuhl am Fenster meines Zimmers, das im ersten Stock liegt. Ich darf mich nicht erheben, darf keine Zeitung lesen, keinen fremden Menschen sehen. Ich darf nur gradaus durchs Fenster blicken.

Die Welt ist hinter mir versunken wie etwa ein Bahnhof, aus dessen Halle ein Zug mich mit rapid wachsender Schnelligkeit entfährt. Ich bin froh. Ich werde vielleicht wieder Landschaften sehen.

Nein, ich werde keine Landschaften sehen. Ich muß zum Fenster meiner Wohnung hinausblicken und gegenüber ist hoch oben ein Fenster, und darunter ein Stück nackter Wand, von der sich Mörtel in kleinen Brocken ablöst. Das gelbbraune Ziegelwerk, das darunter hervorsieht, bildet groteske Fratzen.

Und tiefer unten, just in gleicher Höhe mit meinem Fenster, beginnt eine seltsame, lustige, bunte Welt. Ein Wäschemädel mit roten Backen und einer prallen Büste, die von Bierbaum-Lyrik strotzt, über einen Waschtrog zierlich gebeugt. Mit schlanken Fingerspitzen faßt sie ein Wäschestück und hält es hoch. Das macht mich krank. Wie kann man nur so zimperlich mit Unterhosen umgehen? Unterhosen sind kein Schmetterling, mein Fräulein! Greifen Sie nur zu! Seltsamerweise weht irgendwoher ein Wind. Unerklärlich! Wie kommt ein Wind in diese Waschküche! Sie ist ordentlich gehalten, weiße, schwarzgestreifte Kacheln sind an den Wänden sichtbar. Ich wette, daß die Tür gut schließt. Nun aber bläht so ein rätselhafter Wind die Röcke dieses Mädchens hoch und ach! man sieht Waden und Strumpfbänder. Und ein wenig Spitzenzeug. Blütenweiße Dessous! Oh, wie nahe verwandt sind Seife und Erotik!

Ganz ohne innigere Beziehung zu diesem netten Wäschermädel ist, wie ich vermute, jener Mann linker Hand nicht! Ich wüßte nicht, aus welchen Gründen sonst er seine braunen Backen so bläht und mit seinen alkoholglühenden Augen besoffene Pfauenräder schlägt. Er ist groß und fett und macht den Eindruck eines vorsintflutlichen Ungeheuers, eines Ichthyosaurus etwa, der, ohne Rücksicht auf Darwin zu nehmen, mit einem kühnen und plumpen Satz über Tausende von Lebensformen hinweg direkt zum Menschen hinüberleitet. Wo in aller Welt leben Wesen dieser Art, mit menschenähnlichen Fratzen und Elefantenhabitus? “Urwiener Musik-Gesang” steht auf dem Plakat. Das Ungeheuer hat einen winzigen Schädel, auf dem eine schwarze Haarglasur klebt. Im Verhältnis zu seinem Bauch ist der Kopf so lächerlich gering wie ein Holztiegelchen, mit dem Kinder spielen. Über dem ungeheuren Leib ein Instrument, Mandoline oder so. Die Farbe der großen behaarten Pratzen und der Backen ist dunkelrot wie rohes Büffelfleisch, das drei Tage unterm Sattel gelegen hat. Dieses Übergangswesen vom Ichthyosaurus zum Menschen ist ein Urwiener Heurigen-Sänger bei Johannes-Stube. Ich bin neugierig, was sich da zwischen dem dummen Wäschermädel und diesem seltsamen Naturexperiment entspinnen wird.

Rechts von dem Wäschermädel eine Gesellschaft, die mir gefällt. In einem geradezu ausländisch erleuchteten Lokal steht ein Herr auf Lackschuhspitzen. Seine weiß behandschuhten Hände schweben waagrecht in der Luft, Daumen und Zeigefinger berühren sich zärtlich. Der Mann ist Tanzlehrer. Nicht übel. Damen und Herren, süßlich wie Zuckerwerk, schlingen einen Reigen. Wie gut es den Leuten geht! Und hier muß man im Lehnstuhl sitzen und krank sein!…

Von einem entsetzlichen Geball aus Ultramarin und Schwarzblau überwölbt, schmettert ein messingner Kitsch, sozusagen “Lichtermeer”, eitel Jubel und Seligkeit. Ein einziger golden glühender Schrei. Ein gelbrotes Fanfarenjuchhe. Damen in hellen Kleidern, die silbern leuchten. Glühende Weinkelche wie Heiligtümer. Opferschalen auf Dionysosaltären. Wie? Ich habe schon lange keine Zeitung gelesen! Wien hat Licht und Kohle im Überfluß.

Ah! Wie gräßlich! Da ist eine Nacht, blau, sag´ ich euch, so schrecklich finsterblau wie violettes Sturmgewölk. Einer Lokomotive gefräßige Augen bohren sich durch das Farbendickicht. Auf Schienensträngen liegt ein armes Frauenzimmer. Waden wie das Wäschermädel. Nur ist es hier natürlich, daß ihre Röcke nicht in Ordnung sind. Erotik und Lokomotive passen doch besser zueinander.

Nun, ja! Warum liegt sie denn schon drei Tage und Nächte? Und der Zug, der so nahe ist, braust und braust fortwährend heran und überfährt sie doch nicht! Ich lechze nach Blut, Kleiderfetzen, zerschlissenem Menschenfleisch. Ich will diesen interessanten Frauenkopf mit dem wirren Haar endlich selbständig den Hang hinunterrollen sehen! Nein! Diese Lokomotive rührt sich nicht vom Fleck. Ich werde vielleicht sterben, und dieses Frauenzimmer wird immer noch über den Schienen liegen und sich anglotzen lassen von der stupiden Lokomotive.

Es ist anders gekommen. Heute früh kam ein Mann mit Leiter, Kleistertopf und Pinsel. Die Nacht mit Lokomotive und Schienensträngen und Frauenkörper ist verschwunden. Ah! endlich.

In der Bar ist Musik. Ein Kapellmeister schießt weiße Strahlenbündel von seiner Hemdbrust in das Lokal. Alle Damen haben die Waden des Wäschermädels. Es kommt immer logischer: Bar und Erotik, das hat denn doch vernünftige Beziehungen!

Ich will krank bleiben. Diese lustige, bunte Welt vor den Augen haben. Ich lese keine Zeitungen. Es geht uns ja so gut, oh, so gut!

Der Neue Tag, 1.2.1920.
Der Text findet sich auch in der Anthologie “Joseph Roth, Kaffeehaus-Frühling. Ein Wien-Lesebuch herausgegeben und mit einem Vorwort von Helmut Peschina, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001”.
Der Herausgeber dankt Helmut Peschina herzlich für den Hinweis auf diesen Text.