„Shady Characters“

„Shady Characters“: darunter versteht man im Englischen im Allgemeinen zwielichtige Charaktere, und auch Keith Houston beschäftigt sich in seinem so betitelten Buch mit Randexistenzen. Allerdings sind seine „characters“ nicht irgendwelche dubiose Kriminelle, sondern, entsprechend der zweiten Bedeutung des Wortes, Schriftzeichen – und zwar solche, die auf Tastaturen und Keyboards ein eher verstecktes Dasein fristen, die oft schwer zu finden sind und über deren Herkunft meist nichts Genaueres bekannt ist.

Insgesamt hat der britische Typografie-Experte Houston für sein 340-Seiten starkes und überaus lesenswertes Buch der Geschichte von elf „shady characters“ nachgespürt. Es sind dies die Anführungszeichen, der Gedanken- und der Bindestrich, das Kreuz- und das Sternzeichen, das Und-Zeichen &, das @-Symbol, das Absatzzeichen ¶, das Doppelkreuz #, die in der Fachsprache als Manicula bezeichnete kleine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger und – als vermutlich geheimnisvollste Erscheinung – das Interrobang ‽.

Zu allen diesen Zeichen weiß Keith Houston, der von Beruf Software-Entwickler ist, viel Interessantes zu erzählen. So etwa, dass das merkwürdige Interrobang der jüngste aller „shady characters“ ist. Die Kreation dieses „Fragerufzeichens“ geht auf Martin K. Speckter zurück, der in den 1960er Jahren Chef einer New Yorker Werbeagentur war. Ihn störte es, dass in Werbetexten oft Frage- und Rufzeichen als Ausdruck besonderer Emphase hintereinander gesetzt wurden. „Who would punctuate a sentence like that?!“ – diese rhetorische Frage stellte Speckter in einem Artikel für die März/April 1962-Ausgabe des von ihm herausgegebenen Fachmagazins „Type Talks“ und schlug als Ausweg aus dem typografischen Dilemma das Interrobang vor. Der Name des Zeichens setzt sich übrigens aus dem Lateinischen „interrogatio“ – „Frage“ – und dem im Englischen umgangssprachlich für Rufzeichen verwendeten „bang“ zusammen. Martin K. Speckters Vorschlag fand viel Zustimmung, das Interrobang wurde in die Schriftart „Americana“ aufgenommen und war in den späten 1960er Jahren auf einigen elektrischen Schreibmaschinen auch als eigene Taste verfügbar. „Unfortunately, the interrobang’s status as a cause célèbre during the late 1960s and early 1970s proved ephemeral“, schreibt Keith Houston über die nur kurze Popularität des Zeichens: „A creation of the advertising world – and considered by some an unnecessary one at that – the interrobang faced resistance in literary and academic spheres“. Als Satzzeichen geriet das Interrobang bald wieder außer Gebrauch, im Designbereich taucht es bis heute immer wieder auf – so etwa als Logo der australischen „State Library of New South Wales“.

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Um ein Vielfaches älter als das Interrobang ist die Manicula, die – so die Übersetzung des lateinischen Begriffs – „kleine Hand“. Anders als bei den meisten anderen Satzzeichen liegt der Ursprung der Manicula nicht im Schreiben oder Drucken von Texten, sondern im Prozess des Lesens. Denn das Händchen entwickelte sich aus jenen Markierungen, die von Lesenden im fertigen Text angebracht wurden, um auf bestimmte Stellen aufmerksam zu machen und um diese später leichter wieder finden zu können. Sehr bald aber wurde daraus ein dekoratives Symbol, das ab dem frühen Mittelalter in Gebrauch war und über die Jahrhunderte ein beliebtes Hinweiszeichen geblieben ist.

Maniculae aus Palmer & Rey’s 1887 in San Francisco aufgelegtem „Third revised specimen book and price list of printing material“

Maniculae aus Palmer & Rey’s 1887 in San Francisco aufgelegtem „Third revised specimen book and price list of printing material“

Keith Houstons Interesse an den „shady characters“ wurde, wie der Autor im Vorwort zu seinem Buch berichtet, durch die Lektüre eines schon klassischen Buches zur Typografie geweckt – nämlich durch „An Essay on Typography“ von Eric Gill aus dem Jahr 1931. Gill – „one of England’s most famous modern typographers“ – benutzte darin immer wieder auch ein Zeichen, das Houstons besonderes Interesse erweckte. Es war das im Englischen „pilcrow“ genannte Absatzzeichen ¶. Dieses wird oft als seitenverkehrtes P beschrieben, in Wahrheit aber hat es sich aus einem C entwickelt. Dieses C stand in mittelalterlichen Handschriften, in denen es nicht die heute üblichen Absatzmarkierungen durch Abstände oder Einrückungen gab, als Abkürzung für das lateinische „Capitulum“ und gab den Beginn eines neuen Abschnittes an. Durch Ausschmückungen des C mit senkrechten Zierlinien entstand das ¶, das mit der Erfindung des Buchdruckes ausgestorben zu sein schien – das jedoch durch die elektronische Textverarbeitung zu neuem Leben erweckt wurde.

Denn durch das Drücken auf das ¶ in der Menüleiste

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werden im Text die Sonderzeichen sichtbar, wobei das ¶ jetzt wie einst einen Absatz symbolisiert.

Keith Houston versteht es, die vielen Geschichten, die es über die „shady characters“ zu erzählen gibt, in sehr interessanter und gut lesbarer Form zu präsentieren. Sein Buch, das bislang nur in englischer Sprache vorliegt, ist mit zahlreichen Illustrationen ausgestattet, und daher kann man nur dem Rat eines britischen Rezensenten zustimmen: „Don’t buy the e-book“!

Huston, Keith: Shady Characters. The Secret Life of Punctuation, Symbols & Other Typographical Marks, New York – London 2013.