„Verliebte Plakate“

Gemälde werden lebendig, die Figuren steigen aus ihnen heraus und treten in Kontakt zueinander: Derartige Szenen finden sich in etlichen Filmen, in Theaterstücken und Erzählungen. Und 2012 (damals passend zum „Klimt-Jahr“) kreierte die Wiener Werbeagentur Demner, Merlicek & Bergmann einen TV-Spot, in dem die Geküsste aus Gustav Klimts Bild „Der Kuss“ und der von Johann Gottfried Auerbach porträtierte Prinz Eugen ihre Rahmen verlassen, um miteinander Fruchtgelee der Firma Darbo zu löffeln.

Auch Figuren auf Plakaten können ein solches „Eigenleben“ entwickeln – und sich sogar ineinander verlieben. Die beiden Autoren Leo Einöhrl und Josef Koller machten aus dieser Idee ein „Phantastisches Singspiel“, das 1911 mit der Musik von Ernst Wolf sehr erfolgreich im Wiener Ronacher-Theater aufgeführt wurde. In der Theaterzensur-Sammlung des Niederösterreichischen Landesarchivs in St. Pölten findet sich dazu das Textbuch[1], das der „hochlöblichen K.K. Polizei-Direktion“ zur Genehmigung vorgelegt wurde – die dann auch anstandslos erteilt wurde.

Titelblatt des Textbuchs zum Singspiel „Verliebte Plakate“, Zensurexemplar (Niederösterreichisches Landesarchiv)

Die Hauptpersonen des Einakters stammten von damals vielfach affichierten Plakaten: Eine junge Frau, die eine überdimensionale Zahnpastatube der Marke „Kalodont“ in den Armen hält, und ein Mann, der mit schelmischem Grinsen für das Desinfektionsmittel der Firma „Lysoform“ wirbt. Diese beiden Produkte waren damals noch relativ neu und wurden mit moderner Lebensführung, innovativer Forschung und den aktuellen Bestrebungen nach einer Hygienisierung aller Lebensbereiche assoziiert. „Kalodont“, entwickelt von der Wiener Firma „F.A. Sarg’s Sohn & Co“, war, als es 1887 auf den Markt kam, die weltweit erste in Tuben abgefüllte Zahnpasta ­­(oder, wie es zunächst hieß, „Zahnseife“). Der Zusatz „amerikanisch“, mit dem das Produkt anfänglich beworben wurde, ist wohl als Synonym für „modern“ zu verstehen.

Inserat, in: Das Vaterland, 15.11.1887, S. 8.

„Lysoform“, eine von den beiden Berliner Forschern Hans Rosemann und Alfred Stephan 1900 zum Patent angemeldete Formaldehyd-Seifenlösung, wurde zunächst vor allem im medizinischen und kosmetischen Bereich genutzt, entwickelte sich aber sehr rasch zum weitverbreiteten „Hausmittel“.

Inserat, in: Neue Wiener Friseur-Zeitung, 1.4.1905, S. 9

Beide Produkte wurden von Beginn an intensiv mit Zeitungsinseraten, Werbekarten, Reklamemarken und Plakaten beworben – und auch wenn in beiden Fällen bald mehrere Bildmotive zum Einsatz kamen, waren doch sowohl die Kalodont-Frau als auch der Lysoform-Mann über lange Zeit eine Art Markenzeichen des jeweiligen Produkts.

Die Reklamefrau hatte ihre ersten „Werbeauftritte“ für Kalodont in den 1890er Jahren[2]. Aber bereits in den 1880ern war sie auf der damals in den USA weitverbreiteten Zigarettenkarten-Serie „Actors and Actresses“ zu finden. Die rund 3,5 x 7 cm großen Kärtchen dienten zur Versteifung der Zigarettenpackungen und waren beliebte Sammelobjekte. Die Serie „Actors and Actresses“ umfasst mehrere hundert Porträts, wobei es sich fast ausschließlich um Schauspielerinnen handelt. Dabei ist jeweils auch der Name angegeben – so auch jener der späteren Kalodont-Frau, nämlich Elsie Gerome[3]. Das war allerdings ein Künstlername, eigentlich hieß die Schauspielerin Fannie D. Hills, sie trat in den 1880er und 1890er Jahren an Bühnen in New York, Connecticut und Indiana auf und starb am 18. Februar 1912 in Bridgeport / Connecticut.[4] Ihr Porträt aus der „Actors and Actresses“-Serie ist sowohl auf Zigarettenkarten für „Cross-Cut Cigarettes“ der Firma „W. Duke, Sons & Co“ als auch für „Virginia Bright Cigarettes“ von „Allen & Ginter“ zu finden.

Links: Zigarettenkarte für „Cross-Cut Cigarettes“, The Metropolitan Museum of Art, New York, datiert „1880s“. Mitte: Zigarettenkarte für Virginia Bright Cigarettes, The Metropolitan Museum of Art, New York, datiert „ca. 1888“. Rechts: Wiener Bilder, 28.2.1897, S. 15.

Das Vorbild für das Porträt der Lysoform-Werbefigur war der ungarische Schauspieler Gyula Hegedűs (eigentlich Gyula Mihály Heckmann, 3. Februar 1870–21. September 1931), der in seiner Heimat vor allem als Komiker überaus populär war. Dass die Wahl auf ihn gefallen war, hängt damit zusammen, dass das in Österreich-Ungarn verkaufte „Lysoform“ in Budapest, in der im Stadtteil Újpest ansässigen Chemiefabrik „Keleti & Murányi“, produziert wurde. Hegedűs soll aber auch deshalb als Vorbild für die Werbefigur ausgewählt worden sein, weil einer der beiden Firmeninhaber, Iván Murányi, ein großer Fan des Schauspielers war und diesem überdies sehr ähnlich gesehen haben soll.[5] Über lange Zeit lautete die Frage, die auf den Plakaten – oft versehen mit großem Fragezeichen – gestellt wurde: „Kennen Sie schon das Lysoform?“ bzw. ungarisch „Tudja Ön már, hogy mi a Lysoform?“ So etwa berichtete 1928 die „Hebammen-Zeitung“ vom „Internationalen Hebammenkongress in Wien“: „Die Lysoform-Werke, Chemische Fabrik Ujpest, haben auch hier jedem Besucher die Frage vorgelegt: ‚Kennen Sie schon das Lysoform?‘ und siehe da, es fand sich kein einziger, der das freundlich lachende Gesicht der so gelungenen Lysoform-Reklame nicht schon gesehen hätte.“[6]

Links: Ungarisches Lysoform-Plakat, entstanden um 1910. Magyar Kereskedelmi és Vendéglátóipari Múzeum, Budapest. Rechts: Gyula Hegedűs, 1930.

Sowohl die Kalodont-Frau als auch der Lysoform-Mann waren, als Leo Einöhrl, Josef Koller und Ernst Wolf ihr Singspiel „Verliebte Plakate“ herausbrachten, auf zahlreichen Plakatwänden präsent. Darauf verweist auch das dem Stücktext vorangestellte Szenarium, das überdies erkennen lässt, dass der Ausstattungsaufwand für eine Aufführung nicht allzu groß war:

„Spielt am Abend auf der Straße. Im Hintergrund, der ganzen Breite nach, ist eine Plakattafel sichtbar, wo außer Theater- und sonstigen Ankündigungen das bekannte Kalodont- und Lysoformplakat nebeneinander kleben. Aus den Plakaten werden die Köpfe und ein Stückchen vom Oberkörper ausgeschnitten, so daß die beiden Darsteller ihre eigenen Köpfe durchstecken können. Um aus der Plakatwand hinaus und wieder zurück zu gelangen, muß der untere Teil der beiden Plakate mit je einer zweiteiligen Spieltüre versehen sein, aber so mit Plakaten überklebt, daß beim Aufgehen des Vorhanges das Publikum nur die Plakatwand sieht. – Vorne Laternen, Bäume und eine Gartenbank. (Straße ähnlich der Ringstraße).“

Zu den beiden Protagonisten kommt als Nebenfigur noch der „Zettelankleber“ hinzu („Weißer Mantel, bekannte Type, seinen Wagen vor sich schiebend, benebelt“). Er wird zum Auslöser der – kurzen und relativ simplen – Handlung, denn er soll, wie aus seinem zu einem Couplet umgeformten Selbstgespräch hervorgeht, das Kalodont- und das Lysoform-Plakat, die schon seit dreißig Tagen auf der Plakatwand hängen, nun mit anderen Affichen überkleben. Vorher aber will er in ein Gasthaus gehen, um sich ein Viertel Wein („es können zwei und drei auch sein“) zu kaufen. Die beiden Plakatfiguren, erschreckt durch die Ankündigung des Zettelanklebers, steigen aus der Plakatwand heraus, gestehen einander ihre Liebe, wollen miteinander fliehen, am besten nach Amerika (denn, so der Lysoform-Mann: „Europa lässt mich kalt, / Denn ich liebe nicht, was alt!“), überlegen dann aber zu lange (und in Form von etlichen Liedern), ob ihre Englischkenntnisse ausreichen oder sie sich doch in Wien wohler fühlen. Der Zettelankleber kommt, die beiden eilen an ihre Plätze zurück und werden mit Plakaten überklebt.

Das Stück, das am 13. Jänner 1911 erstmals gezeigt wurde, kam, wie den Zeitungsberichten zu entnehmen ist, beim Publikum sehr gut an. Die „flotte Kleinigkeit“[7] fand „dank der frischen Darstellung“ durch die Soubrette Olga Barco-Frank und den populären Operettentenor Joseph Josephi „eine sehr freundliche Aufnahme“[8] und stand, da es „allabendlich Stürme von Heiterkeit“[9] auslöste, bis in den Februar – und damit länger als zunächst geplant – auf dem Spielplan des Ronacher-Theaters. In dem etwas ausführlicheren Artikel, den die „Allgemeine Sport-Zeitung“ der Produktion widmete, findet sich übrigens auch ein Hinweis auf bereits damals übliches Product-Placement:

„Die Idee zu diesem Stückchen ist dem, der sie gefaßt hat, vermutlich bei einer der vielen Operetten gekommen, in denen Champagner getrunken wird, damit von den weltbedeutenden Brettern aus das Publikum auf diese oder jene Champagnermarke aufmerksam gemacht werden kann. Hier aber wird die Sache offener und mit viel mehr Witz angepackt; die Reklame selbst ist der Gegenstand der Handlung“[10].

Von welchem der beiden Autoren die Idee stammte, bleibt offen. Beide waren im Unterhaltungsgenre sehr erfolgreich: Der am 3. Juli 1878 in Wien geborene Leo Einöhrl schrieb zahlreiche Wienerlieder, war als Journalist und Zeitungsherausgeber tätig und verfasste – gemeinsam mit Josef Koller und zur Musik von Ernst Wolf – das Libretto zur Operette „Wiener Mädeln“. Im September 1942 wurde er in das KZ Theresienstadt deportiert und dort am 14. April 1943 ermordet. Josef Koller, geboren am 18. August 1872 in Wien, war als Volkssänger, Schauspieler und vor allem auch als Autor von Komödien erfolgreich. Anerkennung erwarb er sich überdies als Volksliedforscher mit dem 1931 erschienenen Werk „Das Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit“. 1938 emigrierte Koller nach London, wo er am 15. Oktober 1945 starb. Ernst Wolf, der für das Singspiel „Verliebte Plakate“ Polkas und Walzer komponierte, „die mit der Anspruchslosigkeit den Vorzug verbinden, angenehm ins Ohr zu gehen“[11], wurde am 24. August 1883 in Wien geboren, war zunächst als Bankbeamter, dann als Komponist und Pianist tätig. Wolf starb am 8. Juli 1932 in Purkersdorf bei Wien.

Die letzte nachweisbare Produktion von „Verliebte Plakate“ war im März 1914 in dem damals von Josef Koller geleiteten „Etablissement Adlon“ in der Wiener Rotgasse zu sehen, wobei vor allem der Publikumsliebling Rudolf Kumpa als Lysoform-Mann „stürmisch akklamiert“[12] wurde. Danach jedoch geriet das „Operettchen“[13] in Vergessenheit. Kalodont und Lysoform aber fanden sich weiterhin – und noch viele Jahre lang – auf den Plakatwänden, allerdings teilweise mit gewissen Adaptionen. Denn die Lysoform-Werke nahmen den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Anlass, das Sujet der Zeit entsprechend „anzupassen“ – und so trat der grinsende Mann nun (auf einem vom ungarischen Grafiker Sándor Bortnyik gestalteten Plakat) in Uniform auf.

Plakat, Ungarn 1926

Im April 1916 schrieb der Schriftsteller Karl Kraus in seiner Zeitschrift „Die Fackel“: „Das Lysoform-Gesicht ist das der Zeit. Zu sehen, feixend, an allen Planken. Das Mittel ist eines der Mittel – auf ‚-it‘, ‚-in‘, ‚-ol‘ und ‚-form‘, – die die Menschheit erst nötig hat, seitdem sie sie erfunden hat, und ohne welche es die Leiden nicht gäbe, gegen die sie erfunden wurden. Aber das Gesicht, das es empfiehlt, ist die Zeit selbst. Hierzulande, wo aller Vorfall bunter und lauter ist als sonst in der Welt, vergeht einem Hören und Sehen, wenn man eine Planke entlang geht, nur die Zeit steht und feixt.“[14]

Eine Analyse von einfachen Beispielen der Populärkultur, wie es das Singspiel „Verliebte Plakate“ darstellt, zeigt, dass diese durchaus nicht nur von medienhistorischem Interesse sind, sondern auch aufschlussreiche Dokumente zu verschiedenen Facetten der Kulturgeschichte – wie auch der Geschichte der Werbung – sein können.

[1] Einöhrl, Leo – Josef Koller: Verliebte Plakate. Phantastisches Singspiel. Musik von Ernst Wolf. Wien 1911. NÖ Landesarchiv, NÖ Reg. Präs Theater TB K 032/03.
[2] Zu den frühesten nachweisbaren Belegen für die Verwendung dieses Werbesujets gehören Inserate, die in den Jahren 1897 und 1898 in zahlreichen Ausgaben der Wochenzeitschrift „Wiener Bilder“ erschienen.
[3] Auch das „Wiener Magazin“ beschäftigte sich in der Ausgabe vom Oktober 1931 mit der Identität der Kalodont-Frau und schrieb, dass es sich um eine „bildschöne Amerikanerin namens Elise Gerome“ handle (S. 38).
[4] Siehe: The Bridgeport evening farmer, 19.2.1912, S. 6.
[5] Siehe: S. Nagy, Anikó: Tudja ön már, hogy mi a lysoform? In: Acta Musei Militaris in Hungaria, A Hadtörténeti Múzeum Értesítöje 12, Budapest 2011. S. 148f.
[6] Hebammen-Zeitung, 1.5.1928, S. 103.
[7] Arbeiter-Zeitung, 15.1.1911, S.6.
[8] Deutsches Volksblatt, 15.1.1911, S. 7.
[9] Neues Wiener Tagblatt, 6.2.1911, S.10.
[10] Allgemeine Sport-Zeitung, 15.1.1911, S. 71.
[11] Allgemeine Sport-Zeitung, 15.1.1911, S. 71.
[12] Neues Wiener Journal, 22.3.1914, S. 37.
[13] Neues Wiener Tagblatt, 15.3.1914, S. 16.
[14] Die Fackel, Nr. 418–422, 8.4.1916, S. 10.