1.000 Posters from Toulouse-Lautrec to Sagmeister

 „1.000 Places to See Before You Die“, „1.000 Record Covers“ oder auch „1.000 Chairs“ – mehr und mehr Titel wie diese tauchen auf dem Buchmarkt auf und werden oft zu internationalen Bestsellern. Bei einem immer stärker globalisierten Angebot in den Bereichen Konsum und Entertainment wird es für viele Menschen offenbar schwieriger, sich einen entsprechenden Überblick zu verschaffen. Immer schneller wechseln dabei auch die Lifestyle-Codices. Eine ganze Reihe von derartigen „1.000“- oder „1.001“-Publikationen versprechen Konsum- und Bildungsanleitungen – ein Leben in Distinktion und auf der Höhe der Zeit. „Must have“- oder „No go“-Listen in diversen Zeitschriften sollen aktuelle Inputs liefern und für die entsprechende und marktkonforme Verfeinerung sorgen.

Auch in die schier unüberschaubare Welt von Kunst und Kultur wird im Tausenderpaket Ordnung gebracht: Bücher, Filme, Bilder – immer geht sich die Menge der bedeutenden und zu beachtenden Werke mit der mythischen Zahl 1000 aus. In diesem Zusammenhang erscheint bemerkenswert, dass es dann kaum mehr eine kritische Kanondiskussion gibt, wie dies etwa bei der Veröffentlichung der von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Literaturreihen in den 1990er Jahren noch der Fall gewesen war. Derzeit werden derartige Kompendien relativ gläubig – oder, als Höhepunkt der kritischen Distanz, mit Amüsement  – wahrgenommen.

Nun ist endlich auch ein Bildband mit dem Titel „1.000 Posters from Toulouse-Lautrec to Sagmeister“ erschienen und auch hier wird der Anschein erweckt, dass man mit dem Durchblättern der 568 Seiten das Thema im buchstäblichen Sinne des Wortes „durchschaut“ hat – denn von Texten bleibt der Betrachter hier relativ unbehelligt.

Dieses Kompendium der bedeutendsten und wirkungsvollsten Affichen der Welt ist aus österreichischer Sicht insofern bemerkenswert, als das allerwichtigste Beispiel in dieser Sammlung, nämlich jenes auf dem Cover, das Lou Reed-Poster von Stefan Sagmeister aus dem Jahr 1996 ist.

Darüber hinaus zeigt die Publikation zweifellos eine interessante stilistische und auch herkunftsbezogene Vielfalt. Nicht nur die Hauptströmungen aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, der ehemaligen UdSSR, der Schweiz und den USA werden ausführlich illustriert, sondern auch bemerkenswerte Beispiele aus Ländern wie Dänemark, Schweden, der ehemaligen Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich finden sich in dem Buch.

Die kurzen Begleittexte stammen von Alston W. Purvis, dem Vorstand des „Graphic Designs Department“ am „Boston University College of Fine Arts“. Nach den Kapiteln „The Magnetism of Posters” und „Turn of the Nineteenth Century and Art Nouveau“ folgt bereits „The Vienna Secession“. Der Bogen reicht dann von De Stijl, Bauhaus, Art Deco, Kriegspropaganda, italienischem und polnischem Nachkriegsdesign über die Protestkultur der 1960er und 1970er Jahre bis zum Schlusskapitel „The Poster as a Personal Artistic Expression“, wobei Stefan Sagmeister als prominenter Exponent dieser Richtung vorgestellt wird: „Posters maintain the purest form of graphic communication, and designers such as Paula Scher, Ralph Schraivogel, and Stefan Sagmeister have provided new paradigms. We are now confronted with a wide range of styles, and there are no longer the obvious trends that were dominant for most of the twentieth century.“

Über die Wertschätzung von Stefan Sagmeister hinaus sind hier Österreich oder zumindest Grafiker mit Österreichbezug im Vergleich zu anderen internationalen Publikationen der letzten Jahrzehnte relativ gut repräsentiert: Herbert Bayer, Joseph Binder, Mihály Biró, Adolf Böhm, Walter Bohatsch, Ernst Deutsch-Dryden, Otto Exinger, Hans Fabigan, Andreas K. Hemberger, Fons Hickmann (ist Deutscher, hat aber in Österreich an der „Angewandten“ unterrichtet und ist in dem Buch unter anderem mit einer vierteiligen Serie für die Grazer Stummfilmtage aus dem Jahr 1996 vertreten), Walter Hofmann, Adolf Karpellus, Julius Klinger, Hermann Kosel, Hans Krautschneider, Heinrich Lefler (der konsequent falsch mit zwei f geschrieben wird – es ist jedoch nicht das erste Mal, dass Berthold Löffler und Heinrich Lefler zu einer Person verschmolzen werden), Theo Matejko, Joseph Maria Olbrich, Bernd Steiner (das einzige antisemitische Plakat unter 1000 stammt aus Österreich und ist das berüchtigte, von Steiner entworfene christlichsoziale Wahlplakat von 1920), Egge Sturm-Skrla, Emmerich Maria Weninger (firmiert in dem Buch fälschlich unter dem Familiennamen Emmerich), Hans Zehetmayr (auch ein Deutscher, aber Entwerfer des KPÖ-Plakats aus 1920) und Arthur Zelger.

Die Auswahl ist also durchaus originell, neben Klassikern finden sich immer wieder interessante und kaum bekannte Beispiele aus der Geschichte des Plakatdesigns. So etwa ein Plakat von Andreas K. Hemberger für BMW aus dem Jahr 1936, das bis dato in keinem Katalog einer österreichischen Sammlung aufscheint. Amüsant auch ein Straßenbahnplakat aus dem Atelier von Walter Hofmann für den Niederösterreich-Tourismus im Reigen der 1000 Besten. Diese oft erfrischend unkonventionelle Sicht auf das Plakatschaffen hängt wohl mit gewissen Zufälligkeiten der benutzten privaten Kollektionen zusammen. Leider gibt das Buch keinen Aufschluss darüber, woher die gezeigten Beispiele stammen, es wird lediglich „collectors“ für die Hilfe an der Entstehung des Werkes gedankt und darauf hingewiesen, dass einer der Herausgeber, Martijn F. Le Coultre, selbst Sammler ist.

Die Herausgeber haben zweifellos ein Auge für wirkungsvolle Grafik, doch bei ihrem Wissen um die europäische Geschichte tun sich bedenkliche Lücken auf. So sind drei Plakate aus Österreich mit der fatalen Datierung „c.1940“ versehen: es sind zwei Beispiele von Werbung für Meinl-Kaffee, die eindeutig aus den nachfolgenden Jahrzehnten (Otto Exinger 1956, Hans Krautschneider 1960) stammen und ein Tyrol-Plakat von Arthur Zelger, das sogar mit dem Vermerk „Innsbruck, Austria“ versehen ist, wobei Österreich im angeführten Jahr 1940 bekanntlich schon zwei Jahre nicht mehr existierte. Das Blatt hätte mit Hilfe der Website der Österreichischen Nationalbibliothek unschwer und korrekt auf 1948 datiert werden können. Im Buch findet sich auch die Affiche für Fabigan-Plakate aus dem Jahr 1965, ohne dass die Herausgeber durchschaut hätten, dass der Beworbene auch der Werbegestalter war. Die Arbeit wird unter „anonym“ geführt, obwohl sich in dem Kompendium noch eine weitere, nicht so bekannte Arbeit des Grafikers für den Tierschutz befindet, die diesbezügliche Zuschreibung also nicht so schwer gewesen wäre. Darüber hinaus werden nicht nur Lefler und Löffler verschmolzen, auch der deutsche Grafiker Joseph Binder wird mit dem austro-amerikanischen Joseph Binder im Namensregister zu einer Person.

Trotz dieser inhaltlichen Unzulänglichkeiten und der 1.000er-Marketingmanie stellt das Buch eine Bereicherung der einschlägigen Literatur besonders aufgrund seines weiten Horizonts und des dokumentierten Sinns für ästhetisch und auch propagandistisch originelle grafische Ausdrucksformen dar.

Jong, Cees W. de. – Alston W. Purvis – Martijn F. Le Coultre (ed.): 1.000 Posters from Toulouse-Lautrec to Sagmeister, New York 2010.