Walter Benjamin über Bildreklame in Moskau (1927)

Dmitry Bulanov, Plakat, 1927

Hin und wieder stößt man auf Trambahnwagen, die ringsherum mit Bildern von Betrieben, von Massenmeetings, Roten Regimentern, kommunistischen Agitatoren bemalt sind. Das sind Geschenke, die von der Belegschaft irgendeiner Fabrik dem Moskauer Sowjet gemacht worden sind. Auf diesen Wagen laufen nun die einzigen politischen Plakate, die heute noch in Moskau zu sehen sind. Aber es sind bei weitem die interessantesten. Denn unbeholfenere Geschäftsplakate als hier sieht man nirgends. Das trostlose Niveau der Bildreklame ist die einzige Ähnlichkeit zwischen Paris und Moskau. Zahllose Mauern um Kirchen und Klöster bieten ringsum die schönsten Anschlagflächen. Aber längst sind die Konstruktivisten, Suprematisten, Abstraktivisten, die während des Kriegskommunismus ihre graphische Propaganda in den Dienst der Revolution gestellt haben, entlassen. Heute verlangt man nur banale Deutlichkeit. Die meisten dieser Plakate stoßen den Westler ab. Moskauer Läden aber laden wirklich ein; sie haben etwas von Wirtshäusern an sich. Die Firmenschilder weisen senkrecht in die Straßen, wie sonst nur alte Gasthausembleme, goldene Friseurbecken oder allenfalls vor einem Hutgeschäfte ein Zylinder. Auch finden sich vereinzelt hier am ehesten noch hübsche, unverdorbene Motive: Schuhe fallen aus einem Korb; mit einer Sandale im Maul rennt ein Spitz davon. Vorm Eingang einer türkischen Küche Pendants: Herren mit fezgeschmücktem Haupte je vor einem Tischchen. Für einen primitiven Geschmack ist Anpreisung noch immer an Erzählung, an Beispiel oder Anekdote gebunden. Dagegen überzeugt die westliche Reklame in erster Linie durch den Kostenaufwand, welchem die Firma sich gewachsen zeigt. Hier gibt fast jede Aufschrift noch die Ware an. Die große schlagende Devise ist dem Handel fremd. Die Stadt, die so erfinderisch in Abkürzungen aller Art ist, besitzt noch nicht die einfachste – den Firmennamen. Oft leuchtet Moskaus Abendhimmel in erschreckendem Blau: dann hat man, ohne es zu merken, durch eine der riesigen blauen Brillen dareingesehen, die von den Optikerläden wie Wegweiser vorstoßen. Aus den Torbogen, an den Rahmen der Hausportale springt in verschieden großen schwarzen, blauen, gelben und roten Buchstaben, als Pfeil, als Bild von Stiefeln oder frisch gebügelter Wäsche, als ausgetretene Stufe oder als solider Treppenabsatz ein stumm in sich verbissenes, streitendes Leben die Passanten an. Man muß in der Tram die Straßen durchfahren haben, um aufzufangen, wie sich dieser Kampf durch die Etagen fortsetzt, um endlich auf Dächern in sein entscheidendes Stadium zu treten. Bis dort hinauf halten allein die stärksten, jüngsten Parolen und Wahrzeichen durch. Erst vom Flugzeug aus hat man die industrielle Elite der Stadt, Kino- und Auto-Industrie, vor Augen. Meist aber sind die Dächer Moskaus unbelebtes Ödland und haben weder die strahlende Laufschrift der Berliner, noch den Schornsteinwald der Pariser oder die sonnige Einsamkeit südlicher Großstadtdächer.

Walter Benjamin, Moskau, in: Die Kreatur 1927/28, S. 7–94 (Kapitel 15, S. 93f.)