„Lernen von der Litfaßsäule“

Die Geschichte des Plakats stellt sich zunächst als Geschichte der Gestaltung und Gestalter dar, findet Anleihen und Aufmerksamkeit in Kunst- und Kulturgeschichte. Wichtige „Randbereiche“, wie etwa die Papierherstellung, die Entwicklung der Drucktechniken oder die Geschichte des öffentlichen Anschlagwesens, finden oft nur eher beiläufige Aufmerksamkeit. Eine noch entferntere Bahn ziehen Beiträge zur Plakat- und Medien- und Werbegeschichte aus anderen Bereichen. Da sind die Autoren wichtiger Publikationen, von denen oft nicht mehr als der Name bekannt ist, oder Werbefachleute im weiteren und engeren Sinne, die man weder mit Namen kennt noch um ihren Einfluss auf bestimmte Entscheidungen (z.B. als Auftraggeber oder Strategen) weiß. Als Manko wurde dies schon früh empfunden, so hat „Kaindls Reklamebücherei“ die zumeist unbekannten aber durchaus wichtigen Herren (und es waren nur Herren!) 1921 in einem gesonderten Band vorgestellt.[1] Und trotzdem blieben die damaligen Entscheidungsträger bis heute weitestgehend im Dunkeln. Bestenfalls sind die Verdienste von Ernst Growald (1967–1941) für das Berliner Sachplakat bekannt, oder man kennt die Beiträge von E.E. Hermann Schmidt (1882–?) zur Manoli-Werbung. Victor Mataja (1857–1934) und Paul Ruben (Lebensdaten unbekannt) waren nicht nur als Autoren, sondern auch als Werbefachleute tätig. Damit ist der Kreis der aus diesem Arbeitsbereich geläufigen Personen schon fast beschrieben.

Einem dieser „weißen Ritter“, nämlich Johannes Weidenmüller (1881–1936) hat Dirk Schindelbeck nun ein kleines, nichtsdestoweniger aber verdienstvolles Buch gewidmet. Der 2016 im Berliner Omnino Verlag erschienene Band, dem auch der Titel für den vorliegenden Beitrag entnommen ist, heißt „Der aus Reklame Werbung machte. Johannes Weidenmüller, Werbewissenschaftler und Agenturgründer“. Schindelbeck hatte bereits in früheren Publikationen auf die außerordentlichen Verdienste von Weidenmüller verwiesen[2] und konnte nun diese Ausführungen bildlich und textlich ergänzen.

Gezeichnet wird das Bild eines Getriebenen, der von seiner Arbeit völlig überzeugt ist und der seine Theorien mit großer Energie vorantreibt. Dabei nutzte Weidenmüller neue wissenschaftliche Kenntnisse seiner Zeit. Er ließ sich von Schreibreformen und psychologischen Erfahrungen ebenso inspirieren wie von neuen Erkenntnissen zur Farbenlehre und dem Brücke-Projekt einer „Welt-Registratur“.[3]

Weidenmüller formte daraus eine eigene Theorie (Werbefachlehre), mit eigener Sprache und ungewöhnlicher Umsetzung in den Arbeitsstrukturen. Zunächst gründete er 1908 die „Werkstatt für neue deutsche Wortkunst“, aus der 1913 dann die „Werbewerkstatt zum Federmann“ wurde. Die Aufteilung der Tätigkeiten wurde durch jeweils spezialisierte Mitarbeiter übernommen. Weidenmüller beschäftigte zeitweise bis zu 30 Personen.[4] Die neue Struktur entwickelte die Idee der Kunstanstalten konsequent in Richtung einer modernen Werbeagentur weiter. Auch wenn es verschiedene Formen künstlerischer Gemeinschaftsarbeit gab, so etwa in der „Steglitzer Werkstatt“[5] in Berlin oder bei „Die Sechs“[6] in München, eine auf theoretischer Grundlage strukturierte Arbeitsteilung mit einem weiten Ansatz genreübergreifender Werbung war dies noch nicht. Erst die Gründung des „Wilhelmwerks“ durch Wilhelm Deffke und Carl Ernst Hinkefuß im Jahre 1915 ging in diese Richtung.[7]

Dirk Schindelbeck beschreibt sowohl im Allgemeinen als auch an speziellen Beispielen, worin die neuen Ideen von Weidenmüller bestanden, und es liest sich, wie das 1×1 der Vorgehensweise einer modernen Full-Service-Agentur. Sein theoretischer Ansatz war aber letztlich wohl zu radikal, und so zieht Schindelbeck im Kapitel „Zu früh gekommen, bekämpft, vergessen“ die Bilanz einer großen Idee, die nur wenige weitsichtige Unterstützer fand.

Einer von ihnen war der Weidenmüller-Schüler Hubert Strauf (1904-1993). Wortgewaltig wie sein Lehrer wurde er (u.a. mit „Mach mal Pause mit Coca-Cola“ und dem Spruch „Keine Experimente“ für einen CDU-Wahlkampf) zu einem der einflussreichsten Werbefachleute der 1950er und 1960er Jahre.

Weidenmüllers Theorien wurden Jahre später „neu erfunden“ und mit neuen Worten definiert. „Marketing“, „Kundenbeziehungsmanagement“ und „Operative Beeinflussungstechnik“ etwa sind heute wichtige Verkaufsinstrumente, die in Weidenmüllers Arbeiten schon früh praktiziert wurden, bei ihm hieß das „angebotliche Bewusstseinsbeherrschung“. Neben dem Verdienst Weidenmüllers auf werbefachlichem Gebiet scheint mir ein weiterer Aspekt wichtig zu sein. Die Art der Arbeitsteilung, wie sie Weidenmüller betrieb, ist geeignet, Kreativität zu organisieren – wie dies heutige, auf Kreativität angewiesene Branchen in ihrer teiligen Spezialisierung belegen.

Hoffen wir, dass das Buch auch anderen Autoren Anregung ist, sich mit weiteren Personen der Werbegeschichte und deren Verdiensten intensiver zu befassen.

Dirk Schindelbeck: Der aus Reklame Werbung machte. Johannes Weidenmüller, Werbewissenschaftler und Agenturgründer, Berlin 2016.

[1] Kaindl, J.J. (Hrsg.): Biographien der Werbefachleute, Wien 1921 (Kaindls Bücherei, Bd. 3).
[2] Siehe: Schindelbeck, Dirk: Strategien zwischen Kunst und Kommerz. Die Geschichte des Markenartikels seit 1850. In: Jörg Meißner im Auftrag des Deutschen Historischen Museums (Hrsg.): Strategien der Werbekunst von 1850-1933, Berlin 2004, S. 74; dort verwiesen auf: Schindelbeck, Dirk: Pionier der Werbewirtschaft. In: Damals 4/2003, S. 61-65.
[3] Siehe dazu das Kapitel: Auf Augenhöhe mit der Wissenschaft.
[4] Die Tätigkeitsbezeichnungen in Weidemüllers Agentur zeugten von dem Versuch, möglichst alle benötigten Gewerke für die Bewältigung komplexer Anforderungen im eigenen Haus zu haben. Aufgeführt sind u.a.: Sprachner, Bildner, Drucksachner, Zeichner, Ätzer, Setzer, Drucker, Papierhändler, Buchbinder, Umschlaglieferant und Adressenschreiber.
[5] 1900 gründeten Fritz Helmuth Ehmcke (1878–1965), Friedrich Wilhelm Kleukens (1878–1956) und Georg Belwe (1878–1954) die Steglitzer Werkstatt. Man verstand sich dabei durchaus als (Gestaltungs-)Agentur, blieb aber weitgehend spezialisiert auf Typografie und Buchgestaltung mit künstlerischem Anspruch. Siehe Marten, Britta: Die Steglitzer Werkstatt, Berlin 1999.
[6] Die Gruppe „Die Sechs” vereinigte zeitweise – außer natürlich Ludwig Hohlwein – die wichtigsten Gestalter Münchens. Zu ersten Gruppe (gegr. 1914) gehörten: Franz Paul Glass (1886–1964), Friedrich (Fritz) Leonhard Heubner (1886–1974), Carl Moos (1878–1959), Emil Preetorius (1883–1973), Max Schwarzer (1882–1955) und Valentin (Walenty) Zietara (1883–1933). Zur zweiten Gruppe (gegr. 1924) gehörten: Max Eschle (1890–), Franz Paul Glass, Hans Ibe (Johann Baptist Maier, 1881–1957), Otto Ottler (1891–1963), Tommy Parzinger (1903–1981) und Valentin (Walenty) Zietara.
[7] Siehe: Jaeger, Roland: Vom Wilhelmwerk (1915–1920) zur Internatio (1920–1933). Werbeateliers von Wilhelm Deffke und Carl Ernst Hinkefuß. In: Bröhan Design Foundation (Hrsg.): Wilhelm Deffke – Pionier des modernen Logos, Zürich, Berlin 2014, S. 101-155.