Die Sixties, die Plakate und die Werbung in Wien

„Milch unser bestes Getränk“, Plakat,1960 (Ausschnitt). Alle Abbildungen: Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung

„Es gab Zeiten, in denen Österreich führend in diesem Bereich der Gebrauchsgraphik war und in denen Auslandsaufträge für österreichische Künstler eine Selbstverständlichkeit waren. […] Mit dem Besten seiner Plakatkunst kann sich Österreich auch heute noch der internationalen Kritik stellen und österreichische Plakatkünstler genießen heute wieder Ansehen auch im Ausland, aber die verlorene Stellung ist noch lang nicht wiedergewonnen.“[1] Das formulierte 1961 Viktor Griessmaier, der damalige Direktor des Museums für angewandte Kunst in Wien, und konnte sich damit der Zustimmung in Fachkreisen sicher sein.

New York um 1960: Don Draper, der Kreativdirektor der Werbeagentur Sterling Cooper in der vornehmen Madison Avenue, präsentiert den Chefs der Zigarettenmarke Lucky Strike die Ideen für eine neue Plakat- und Inseraten-Kampagne. Der smarte Kreativchef konnte dafür auf ein großes Team von Spezialisten zurückgreifen: Artdirectors, Texter, Illustratoren, Grafiker, Reinzeichner etc. Als Vorbild für die erfolgreiche TV-Serie „Mad Man“ diente die innovative Agentur Doyle Dane Bernbach, die mitverantwortlich war für die sogenannte „kreative Revolution“ in der Werbung der sechziger Jahre.

Wien um 1960: Ernst Insam, Grafikdesigner – oder Gebrauchsgrafiker, wie es in den sechziger Jahren noch hieß –, wird von der Österreichischen Tabakregie beauftragt, eine neue Werbelinie für die 1959 geschaffene Marke Smart Export zu kreieren. Art Direktor: Ernst Insam. Texter: Ernst Insam. Illustrator: Ernst Insam. Reinzeichner: Ernst Insam. Es entsteht eine Plakatserie über diese österreichische Design-Ikone, die sehr erfolgreich sein wird und auch im Ausland Beachtung findet.[2] Immerhin fährt Insam einen coolen Porsche, der fast so prestigeträchtig ist wie Drapers neuer 62er Cadillac El Dorado und den Statussymbolen und dem Lifestyle der künftigen Werbe- und Agenturwelt schon recht nahe kommt.

Ernst Insam,1966

Man sieht: Die Arbeitsprozesse waren durchaus verschieden, und die Globalisierung ließ noch auf sich warten. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, das einzig Verbindende zwischen New York und Wien war, dass sich diesseits und jenseits des Atlantik die Ausführenden als Künstler betrachteten – heute nennen sie sich eher Kreative. Und vielleicht rauchten Auftraggeber und Auftragnehmer eine Zigarette bei der Besprechung und tranken danach ein Glas Whisky oder Cognac. In Österreich wird das wohl eher Julius Meinls Altes Stammfass oder Bouchet Old Splendor von Mautner Markhof gewesen sein.

Die sechziger Jahren stellen in der Werbung und im Plakat in Österreich eine Zeitenwende dar. Dafür könnte man auch den vielgebrauchten Terminus Paradigmenwechsel bemühen. 1970 war nichts mehr so, wie es sich 1960 angelassen hatte. Formal wurden um 1970 bereits mehrheitlich Werbeagenturen für die Gestaltung von Plakaten beauftragt, und damit verbunden hatte sich inhaltlich das Fotoplakat gegenüber dem gezeichneten Sujet durchgesetzt. Möglicherweise hatten sich die Werber vom einflussreichen Agentur-Papst David Ogilvy überzeugen lassen: „Die Forschung hat in unzähligen Fällen bewiesen, dass Fotos mehr verkaufen als Zeichnungen. Fotos sprechen den Leser mehr an. Sie sind appetitanregend, man erinnert sich besser an sie (…). Fotos verkaufen besser. Fotos repräsentieren die Realität, wogegen Zeichnungen die Phantasie versinnbildlichen und daher weniger glaubwürdig sind.“[3]

Diese Meinung bezog sich vordergründig auf Anzeigenwerbung in Zeitschriften und Magazinen, die ja von Fotostrecken dominiert war, veränderte aber indirekt auch die Gestaltung von Plakaten. Es war natürlich ein schleichender Prozess, und es gibt Beispiele für Agentur- und Fotoplakate aus den frühen sechziger Jahren und eine Reihe gezeichneter Plakate an der Wende zu den siebziger Jahren. Hinzu kam, dass den Auftraggebern von Wirtschaftswerbung die künstlerische Qualität nicht so wichtig war und die Werbewirkung eines Sujets, abgesichert durch die Marktforschung, zum ausschlaggebenden Kriterium wurde.

Werbeagenturen etablierten sich im Wien der sechziger Jahre nur sehr langsam. Walter Lürzer dokumentierte diese Tatsache mit einer persönlichen Anekdote. Als er 1965 im „Entwicklungsland“ Österreich in einer Tageszeitung eine Annonce als Kontakter aufgab, hatten sich angeblich vor allem Elektriker gemeldet.[4] 1964 eröffnete die Agentur J. Walter Thompson unter der Leitung von Hans Hoffmann ein Büro in Wien[5], und 1966 gründete McCann-Erickson unter der Führung von Norbert E. R. Gregor ihre 88. Niederlassung in der Stadt an der Donau.[6] Daneben gab es noch die Agentur Lintas, die zu Unilever gehörte und nur konzerneigene Produkte bewarb. Demner & Merlicek wurde gerade noch 1969 gegründet, der von Hans Schmid initiierte Ableger der Schweizer Agentur GGK erst 1972.

Das österreichische Grafikdesign in den Sixties scheint, obwohl eigentlich erst wenige Jahrzehnte vergangen sind, auf eigentümlich Weise der Vergessenheit anheimgefallen zu sein. Nicht nur beim breiten Publikum, sondern auch unter Fachleuten. Zwei Beispiele verdeutlichen diese Tatsache: In seinem Fast-Forward-Artikel über die österreichische Plakatgeschichte verschweigt der bekannte Grafikdesigner Erwin K. Bauer elegant – oder doch ratlos? – die sechziger Jahre. Offensichtlich scheint ihm dieses Jahrzehnt nicht wichtig gewesen zu sein.[7] 2009 erschien ein Buch über das sich gerade in Umbau und Renovierung befindliche 20er Haus.[8] Den Umschlag ziert das gestanzte Logo, das Georg Schmid für die Eröffnung 1962 schuf. Agnes Husslein-Arco würdigt in ihrem Text ausführlich den Architekten Karl Schwanzer und den Gründungsdirektor Werner Hoffmann, erwähnt allerdings mit keinem Wort den Urheber des Corporate Design. Dabei war vor allem durch Schmids Ausstellungsplakate, die omnipräsent waren, und eben dieses Logo das neue Haus ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Agnes Husslein-Arco vermittelt ebenso wenig, dass der Begriff „20er Haus“ im Wesentlichen auf das Eröffnungsplakat zurückgeht, auf dem das Logo mit dem integrierten überdimensionalen „m“ für Museum in „20“ dem Betrachter ins Auge springt.

Die sechziger Jahre zeichnen sich auch dadurch aus, dass es für Grafikdesign und das Plakat im Speziellen kein österreichisches Publikationsorgan gab. Die Monatszeitschrift „plakat. Österreichs Werbe-Rundschau“ war ein kurzzeitiges Projekt und wurde bereits 1955 wieder eingestellt. Die 1949 gegründete Zeitschrift „Werbung. Fachblatt für Wirtschaftswerbung“ der Landesinnung des wirtschaftlichen Werbewesens wurde 1960 eingestellt. So blieben nur die „Mitteilungen des Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker“, die sich regelmäßig mit plakatspezifischen Themen beschäftigten, allerdings fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschienen und den Mitgliedern des Verbandes vorbehalten waren.

Wollte man sich in den sechziger Jahren über österreichisches Grafikdesign informieren oder seine Arbeiten als Grafiker publizieren, war man auf ausländische Medien angewiesen. Im deutschsprachigen Raum waren die bedeutendsten davon die in München erscheinenden Fachzeitschriften „Gebrauchsgraphik“ und „Graphik“ sowie das Zürcher Zweimonatsmagazin „Graphis“.[9] Daneben gab es noch die Jahrbücher „Modern Publicity. Annual of International Advertising Art“ aus London, bei dem der österreichische Grafiker Rudolf Korunka im Editorial-Board saß, und das „International Poster Annual“ aus der Schweiz.

Allerdings muss man nach Auswertung dieser Publikationen feststellen, dass österreichisches Grafikdesign im Ausland – vor allem auch im Vergleich zu anderen Ländern – nur sehr selten Anerkennung fand. Am ehesten noch in den Jahrbüchern, wo zumindest Arbeiten von Ausnahmekönnern wie Hans Fabigan, Ernst Insam, Wilhelm Jaruska, Georg Schmid und Arthur Zelger regelmäßig publiziert wurden. Im Standardwerk „Who’s Who in Graphic Art“ wurden nur Hans Fabigan, Hermann Kosel, Kurt Schwarz und der Linzer Erich Buchegger präsentiert[10], während 36 Deutsche und 29 Schweizer Erwähnung fanden.

Links: Georg Schmid, 1967 / Rechts: Hermann Kosel, 1966

Erst Anfang der siebziger Jahren besserte sich die Situation. 1972 erschien erstmals das Jahrbuch des neugegründeten Creativ Club Austria, und im selben Jahre wurde zum ersten Mal der neugeschaffene Staatspreis für Werbung verliehen, zu dem es auch eine Begleitpublikation gab. In jenem Jahr erhielt auch zum letzten Mal ein Grafikdesigner ad personam – nämlich Sylvester Lička – und nicht eine Werbeagentur den Staatspreis zuerkannt.

In den sechziger Jahren wurden auch die ersten internationalen Biennalen für Graphic Design (in Brünn 1964) und für das Plakat (in Warschau 1966) gegründet. 1966 waren in der mährischen Hauptstadt neben Paul Flora und Hans Fronius die Grafikdesignerin Epi Schlüsselberger und die Grafikdesigner Willi Bahner, Kurt Schwarz und Wilfried Zeller-Zellenberg mit Wettbewerbsbeiträgen vertreten. In Warschau nahmen 1968 an der Konkurrenz Erich Buchegger, Hans Fabigan, Alfred Proksch und Georg Schmid teil. Auf der Dokumenta III (1964), die sich in einer eigenen Abteilung „Grafik“ unter dem Kuratur Karl Oskar Blase speziell dem Medium Plakat widmete, waren unter den bekannten Positionen des internationalen Grafikdesigns nur die Exil-Österreicher Herbert Bayer und Oskar Kokoschka mit Plakaten vertreten.

Die Wiener Plakatszene der sechziger Jahren war ein durchaus hermetisches Biotop. Weder kamen ausländische Grafiker nach Wien, noch versuchten österreichische Grafikdesigner, wie das noch in der Zwischenkriegszeit sehr häufig der Fall war, in anderen Ländern Fuß zu fassen – sieht man von Hermann Rastorfer ab, der erfolgreich in München arbeitete. Fast scheint es, als hätte es in dieser Beziehung einen Eisernen Vorhang westlich von Wien gegeben. Auch die nicht wirklich weit von Österreich entfernte, wegweisende und stilprägende Hochschule für Gestaltung in Ulm brachte keine bedeutenden österreichischen Absolventen hervor.

Der Terminus Gebrauchsgrafiker war Anfang der sechziger Jahre bereits etwas antiquiert, und der Begriff Grafikdesigner setzte sich allmählich durch, obwohl Otl Aicher in Ulm bereits um 1960 den Namen „visuelle Kommunikation“ als Überbegriff für Werbung und Reklame, ergänzt durch reflektierte Beobachtung und empirische Forschung, vorschlug.[11] Der Bund Deutscher Gebrauchsgraphiker (BDG) änderte seinen Namen 1968 in Bund Deutscher Grafik-Designer, um auf das gewandelte Berufsbild hinzuweisen.[12] In Österreich dauerte der Prozess rund 17 Jahre länger. Erst 1985 änderte der Bund Österreichischer Gebrauchsgraphiker (BÖG) seinen Namen in Grafik-Design Austria (GDA), um dann 1993 erneut umbenannt zu werden – in Design Austria (DA).

Die Prämierungen von Plakaten und Ausstellungen waren wohl die öffentlichkeitswirksamsten Maßnahmen. Im Jahr 1961 wurde die seit 1951 existierende Plakatwertungsaktion der Stadt Wien von einer monatlichen auf eine vierteljährliche Auszeichnung umgestellt. Allerdings blieben politische Plakate von dieser Wertung ausgeschlossen. Die Jury konnte zwei bis acht Plakate pro Quartal prämieren und zusätzlich eines mit einem Geldpreis der Gewista als „Bestes Plakat“ auszeichnen. Am Ende des Jahres wurden drei Jahresplakate mit Diplom und einem Geldpreis von 5.000 Schilling prämiert.[13] Rund 40 Grafikdesigner und Grafikdesignerinnen wurden in den sechziger Jahren ausgezeichnet.

1961 fanden gleichzeitig zwei Plakatausstellungen statt. Eine von Victor Theodor Slama gestaltete Open-air-Ausstellung des Kulturamtes der Stadt Wien und der Gewista präsentierte vor dem Palais Schwarzenberg im Juni Affichen anlässlich 10 Jahre Plakatwerbung. Im Rahmen der Wiener Festwochen wurden dabei auch internationale Plakate aus 22 Ländern vorgestellt[14]. Zeitgleich zeigte die Wiener Arbeiterkammer – nur einige hundert Meter entfernt – die Ausstellung „Das Plakat als Ausdruck der Gesellschafts-, Kultur- und Sittengeschichte seiner Zeit“, kuratiert von Hans Fabigan. Dieser hatte dafür rund hundert historische und aktuelle Plakate aus 16 Ländern ausgewählt –  von Henri Toulouse-Lautrec, Julius Klinger, A. M. Cassandre, Käthe Kollwitz, Pablo Picasso, Henri Matisse bis zu den österreichischen Zeitgenossen Willi Bahner, Hermann Kosel, Ernst Paar oder Alfred Proksch. Bei der Pressekonferenz merkte Fabigan ironisch an, dass es „den österreichischen Auftraggebern sogar bereits gelungen sei, einen Schweizer Grafiker, der durch seine originellen Schweizer Plakate bekannt geworden ist, dazu zu bringen, dass er für uns genau solche Durchschnittsplakate macht, wie man sie hier eben überall sieht.“[15]

Die großen aktuellen Vorbilder in der Plakatkunst sah Fabigan in der Schweiz und in Polen beheimatet. Im März 1966 wurde im Museum für angewandte Kunst eine Ausstellung der Alliance Graphique Internationale (AIG) über Internationale Gebrauchsgraphik eröffnet, die man vom Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg übernommen hatte. In der Schau wurden die Arbeiten der 100 Mitglieder dieses erlauchten Vereins, quasi eine Académie française der internationalen Elite der Grafikdesigner, gezeigt. Alfred Proksch, der Präsident des BÖG, merkte an, dass dies „vermutlich die umfassendste Dokumentation moderner internationaler Gebrauchsgraphik“ sei, die „in Österreich je gezeigt wurde.“[16] Das einzige österreichische Mitglied, Georg Schmid, war auch für das Plakat verantwortlich. Der damalige Kunstkritiker und Kulturpublizist Peter Baum schrieb: „Die Eindringlichkeit, mit der hier in allgemeiner künstlerischer Qualität, klar verständliche und originelle graphische Lösungen gezeigt werden, sollte vor allem beim Auftraggeber und Graphiker selbst auf fruchtbaren Boden fallen, hat doch gerade Österreich auf diesem Sektor der angewandten Kunst noch mehr als genug aufzuholen.“[17]

Der Praktiker Hans Fabigan und der Kritiker Peter Baum waren sich also einig, dass die Qualität des österreichischen Grafikdesigns durchaus noch Entwicklungspotential hätte. Anlässlich des 40-jährigen Bestandes des BÖG fand 1967, ebenfalls im Museum für angewandte Kunst, eine große Ausstellung statt, bei der der Präsident Alfred Proksch die Gestaltung des Plakates selbst in die Hand nahm: Ein nüchterner, in verschiedenen rot-orangen Tönen gehaltener Keil war darauf zu sehen. Die Gestaltung der Ausstellung stammte von den BÖG-Mitgliedern Hanno Bujatti und Haimo Lauth.

In der Standesvertretung der Grafikdesigner kam es um 1960 zum Beginn einer neuen Ära. Im Dezember 1961 übergab Leo Pernitsch, der bereits in den späten dreißiger Jahren Präsident des BÖG war, das Amt an Alfred Proksch. Proksch präsidierte den Verband die sechziger Jahre hindurch und kämpfte gegen Gewerbesteuer und für reglementierte Wettbewerbsordnungen, aber auch für modernistische Qualität in der Gestaltung. Gleich zu Beginn seiner Amtsperiode polemisierte er gegen ein Plakat, das humorvoll und mit naivem Zeichenduktus im Auftrag der Propagandastelle des Milchwirtschaftsfonds für das „beste Getränk“, nämlich Milch, warb. Man darf annehmen, dass sich der Angriff auch gegen das anbrechende Agenturzeitalter richtete, denn das Plakat war – für damalige Zeiten ungewöhnlich – nicht signiert. Proksch schrieb: „Die allgemeine Ablehnung dieses Machwerkes richtet sich sowohl gegen die äußere Form, welche krassesten Dilettantismus verrät, als auch besonders gegen den gedanklichen Inhalt. Die ganze Szene mit dem auf allen Vieren kriechenden menschlichen Wesen, das mit idiotischem Gesichtsausdruck und weit heraushängender Zunge der Katze die Milch wegschleckt, lässt einem die makabre Vision einer Irrenhausszene aufsteigen. […] Nein meine Herren! Hier ist nicht die Spur von Humor zu entdecken – nur das Gegenteil!“[18] Die Anrede verrät auch, dass es sich beim BÖG und bei den Auftraggebern um reine Männergesellschaften handelte. Im Vorstand des Vereins gab es in den Sechzigern nur eine Alibi-Frau, die Modeillustratorin Paula Keller.[19]

Proksch legte Wert auf internationale Vernetzung. Deshalb war der BÖG 1963 auch Gründungsmitglied der ICOGRADA, des Weltdachverbandes der Grafikdesigner. Im Juni 1964 fand im idyllischen Tiroler Bergdorf Alpbach der Kongress der AIG statt, an dem rund 50 der einflussreichsten Grafikdesigner der Welt teilnahmen.[20] Allerdings, unterhalb der Wahrnehmungsgrenze der österreichischen Öffentlichkeit, obwohl es sich bei der 1950 gegründeten Organisation um den prestigeträchtigsten Klub innerhalb der Grafiker-Zunft handelte. Mitglied konnte man nur „by appointment“ werden. Bis 1963 gab es noch kein einziges österreichisches Mitglied, was bezeichnend für die internationale Stellung des heimischen Grafikdesigns war. Erst in jenem Jahre wurde über Vorschlag des legendären Grafikers und Direktors des Amsterdamer Stedelijk Museums, Willem Sandberg, Georg Schmid als erster Österreicher in den elitären Klub aufgenommen.[21] 1965 folgten dann Hans Fabigan und 1966 der in Deutschland lebende Hermann Rastorfer.

Bemerkenswert ist, dass viele bedeutende und an internationalen Tendenzen interessierte Grafikdesigner in den sechziger Jahren auch in der Lehre tätig waren. Die wichtigsten Ausbildungsstätten in Wien waren die Höhere Graphische Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt und die Hochschule für angewandte Kunst. An der Angewandten war Kurt Schwarz bereits seit 1954 Professor und Leiter der Meisterklasse für Grafik, und er blieb dies auch bis weit in die achtziger Jahre.[22] Als Assistentinnen dienten ihm Susanne Storck (bis 1968), Ernst Storch (bis 1961), Rudolf Korunka, Willi Sramek (ab 1962) und Emma Reif (ab 1968). Ernst Storch wechselte 1961 an die Graphische und bildete dort gemeinsam mit Wilhelm Jaruska, Josef Seger und Paul Rataitz (ab 1966) Generationen von Absolventen aus. Hans Fabigan war Leiter der Graphikabteilung an der Modeschule der Stadt Wien in Hetzendorf. Georg Schmid war ab 1969 Leiter des Instituts für graphische Schriftgestaltung, ornamentale Schrift und Heraldik an der Akademie der bildenden Künste Wien. Und Willi Bahner unterrichtete Werbegrafik für den Hochschulkurs für Werbung und Verkauf.

Bei den Plakaten der fünfziger Jahre kann es noch häufig passieren, dass ExpertInnen manche Werke ohne nähere Angaben in die dreißiger Jahre datieren würden, weil sich stilistisch wenig weiterentwickelt hatte. Das änderte sich nun bei den Plakaten aus den Sixties. Sie sind nun genuin modern, auch wenn es durchaus eine große stilistische Bandbreite gibt. Der Nachklang der fünfziger Jahre ist allerdings noch weit bis in die sechziger Jahre zu bemerken. So etwa fällt Walter Hofmanns Plakat für WIW-Trainingsanzüge stilistisch sogar hinter ein ähnliches Sujet zurück, das er 1953 für eine andere Sportartikelfirma gestaltet hatte.

Seit den fünfziger Jahren übte das polnische Nachkriegsplakat und seine stilistischen Eigenheiten einen gewissen Einfluss auf die heimische Szene aus. In Wien gab es regelmäßig Ausstellungen polnischer Plakatkünstler, so etwa auch 1960 in der Galerie in der Biberstraße über Waldemar Swierzy und 1966 über Roman Cieślewicz. Der malerische Stil der polnischen Plakate mit ihrer expressiven Figürlichkeit, der häufig durch Montage und handgeschriebene Texte ergänzt wurde, inspiriert auch heimische Grafiker. Friedrich Kindls Plakat für „Aromat Knorr“ aus dem Jahr 1965 kann den polnischen Einfluss nicht verleugnen. Die malerisch-expressiv hingeworfene Bildebene – ein Diener in Livree – wird nur durch die realistische Darstellung des Produktes und den viersprachigen Text in vier verschiedenen Schrifttypen gebrochen.

In Analogie zum malerischen Duktus der osteuropäischen Plakate gab es auch eine westeuropäische Variante, vor allem in Frankreich und der Schweiz. In unserem westlichen Nachbarland waren die Hauptvertreter Herbert Leupin, bekannt durch seine Suchard-Plakate, und Celestino Piatti. Sie waren die Antagonisten der Vertreter des strengen Schweizer Stils, etwa Max Bill oder Josef Müller-Brockmann. Vor allem Ernst Insam war von ihnen beeinflusst. Sein Shell-Plakat mit dicken schwarzen Konturen und dem Faltplan als Karosserie variiert ein Plakat Piattis, das im Jahr zuvor auch in Wien affichiert wurde, wobei wiederum Piattis Motiv die dtv-Taschenbuch-Covers, die ab 1961 von ihm gestaltet wurden, vorwegnahmen. Insams Plakate für Smart Export erinnern dagegen eher an Leupins humorvolle Inszenierungen für die bekannte Schweizer Schokolade: frei gezeichnete Plakatmotive mit realistischer Darstellung des beworbenen Produktes. Genau so macht es Ernst Insam bei seiner prämierten Zigarettenwerbung. Wenn es nicht Tiere sind, wie Pinguin, Dackel oder Hahn, ist es einmal ein Flugzeug und ein anderes M al ein Automobil, das das Produkt „transportiert“. Mit immer neuen Motiven setzt er diese Serie fort.

Die strenge Form des Swiss-Style, dem die Ideen der Moderne zugrunde lagen, findet sich in gemäßigter und pragmatischerer Anwendung auch bei Wiener Plakaten. Die Schweizer Gestaltungsprinzipien, die z.B. Max Bill, Josef Müller-Brockmann oder Anton Stankowski mit ihren strengen Rastern, der funktionalen Typografie mit serifenlosen Groteskschriften wie der Helvetica und dem virtuosen Umgang mit monochromen Farbfläche vertraten, finden sich vor allem in den Plakaten von Hans Fabigan und Georg Schmid. Fabigan verdeutlicht den Gestaltungsraster beim Ausstellungsplakat für „Claude Lorrain“ für den Betrachter, der sonst ja beim fertigen Plakat unsichtbar im Hintergrund bleibt. Auf die Spitze getrieben ist die formale Umsetzung dieses Stils durch Georg Schmid, nicht zuletzt, weil sich das Plakat auch inhaltlich „formschönen österreichischen Erzeugnissen“ widmet: Ein rotes „F“ und der Titel „Form = Qualität“ beweisen, dass der Leitsatz „form follows function“ noch 70 Jahre nach seiner Prägung Gültigkeit besitzt. An der Graphischen Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt wurden diese Prinzipien selbstverständlich auch vermittelt, was ein Ausstellungsplakat anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Schule beweist, stammt es doch vom damaligen Schüler Karl Heinz Wenisch. Paul Rataitz, Lehrer an ebendieser Ausbildungsstätte, gestaltete sein Plakat für einen der wichtigsten österreichischen Vertreter des International Style in der Architektur, Ernst Plischke, in nüchterner Zurückhaltung. Die Kubaturen des angedeuteten Gebäudes werden nur durch den Schattenwurf sichtbar. Die Reduktion der Formen bedingte, dass dieser strenge Stil eher bei Kulturplakaten zur Anwendung kam, weniger bei wirtschaftsnaher Werbung. Nur mutige Auftraggeber, wie etwa das Beispiel für Elna-Nähmaschinen zeigt, wagten diesen Schritt. Dass es sich dabei um eine Schweizer Marke handelte, wird wohl kein Zufall gewesen sein.

Eng verwandt mit diesen klassischen Regeln der neuen Grafik sind die rein typografischen Plakate. Für die Eröffnungsausstellung des 20er Hauses im Schweizer Garten wählte Georg Schmid ein reines Typoplakat mit der neuen, eng gesetzten Helvetica-Schrift. Die Intention des Gründungsdirektors Werner Hofmann war, mit dieser Ausstellung einen Überblick über die Tendenzen der klassischen Moderne zu geben und den Wienern und Wienerinnen damit quasi einen Schnellkurs der Malerei des 20. Jahrhunderts zu liefern. Ein neutrales Plakat, ohne ein bestimmtes Kunstwerk hervorzuheben, bot sich dabei an. Schmid setzte die Schrift abfallend, also bis an den Plakatrand, und wählt das ungewöhnliche Querformat, das im Übrigen auch das Format des Katalogs war. Auch Hermann Kosel betätigte sich als typografischer Architekt. Für eine Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien über die  „Neuerwerbungen 1961–1965“ überlagert er seine eigene Wort-Bild-Marke für den Museumsneubau von 1959 mit dem Wort „neu“ in sechs verschiedenen Schrifttypen. Von der Fraktur über ein Jugendstil-Monogramm bis zur serifenlosen Linear-Antiqua namens „Helvetica“ – Letztere im allergrößten Schriftgrad. Ein weiteres Plakat von Kosel – „Wien. Wiedergeburt einer Weltstadt“ – baut „Wien“ typografisch auf, geht es doch um eine Ausstellung des Wiener Stadtbauamtes. Verschiedene Schichten des Wortes „Wien“ überlagern sich hier in chaotischer Anordnung – fast wie in einer Schlagwortwolke des Internets heute. Diese Typogramme wurden aber nicht nur für kulturelle Anlässe gestaltet. Neugeschaffene Konsumtempel sollten auch mit einer modernen visuellen Kommunikation vermittelt werden. Das Plakat „Kauf im AEZ“ wirbt für das 1957 eröffnete Ausstellungs- und Einkaufszentrum auf der Landstraße. Das Akronym bildet ein Gebäude, wobei das A ein beschnittenes Satteldach bildet, obwohl auf dem Plakat von einem Dachparkplatz die Rede ist – also handelte es sich um ein Flachdach. Beworben wird sowohl eine Ausstellung als auch der Einkauf „bleibender Geschenke“. 1961 wurde durch Eigentümerwechsel das Kaufhaus Neumann in Warenhaus Steffl umbenannt und ein eigenes Logo, das den Turm des Stephansdoms und den Buchstaben „S“ vereinte, entworfen. Der Hausgrafiker des Warenhauses, Kurt Czerney, türmte für ein Plakat im Jahr 1966 drei dieser Signets zu einer Skulptur auf, ohne allerdings die Originalfarbe Orange zu verwenden. Das Wort „Steffl“ spiegelte gleichzeitig die geschwungene Fassade des von Carl Appel errichteten Baus wider.

Celebrity testimonials in den 1960ern: Links die Schauspielerin Liselotte Pulver, um 1962 / Rechts: Gunther Philipp, 1961

Der denkbar größte Gegensatz zur formalen Strenge im Stil der Schweizer Grafik ist der Mitte der sechziger Jahre auch in Wien einsetzende Einfluss der Pop-Art, aber auch der Op-Art und der Psychedelia-Plakate der kalifornischen West Coast mit ihrer überbordenden Farbenvielfalt und der bis zur Unlesbarkeit gesteigerten Typografie. Sie stellen visuelle Alternativen zur dogmatischen Position der Nachkriegsmoderne dar. Neben den zwei sich fast parallel entwickelnden Strömungen der Pop-Art – der international dominierenden Kunstrichtung der sechziger Jahre – in den USA und in Großbritannien gab es 1963 eine richtungsweisende Ausstellung im Victoria & Albert Museum über „Alphons Mucha and the Art Nouveau“, die viele junge Grafikdesigner nachhaltig beeinflussen sollte und zu einem Wiederaufleben des Jugendstils führte. Während die ersten psychedelischen Konzertplakate 1965 in San Francisco erschienen und teilweise durch die ornamentale Typografie der Wiener Secessionsplakate, wie etwa von Alfred Roller[23], inspiriert waren, gab es für das erste Konzert der Rolling Stones in der Wiener Stadthalle im September 1965 noch keine Bildplakate. Mit einiger Verspätung kam es dann auch in Österreich zu einer Postermania und einer Renaissance des Plakatesammelns. In Wien war die Buchhandlung Bücher-Herzog am Beginn der Mariahilfer Straße dafür die erste Adresse, in der man neben Pornografika und Robert-Crumb-Comics auch Reproduktionen von psychedelischen Musik- und Konzertplakaten für die eigenen vier Wände erwerben konnte.[24] Österreichische Grafikdesigner übernahmen schließlich mit etwas Verspätung Stilelemente der Pop-Art in ihr Formenrepertoire.

Unter dem Titel „Pop etc.“ zeigte Werner Hofmann 1964 erstmals eine umfassende Ausstellung über Pop-Art mit allen großen Namen wie Warhol, der ja ursprünglich Werbegrafiker gewesen war, Lichtenstein oder Rauschenberg. Georg Schmid verzichtete auf die Formensprache der neuen Kunstrichtung und schuf ein rein typografisches Plakat, allerdings mit Pop-Art-adäquater Farbgebung. Fünf Jahre später übernahm der neue Direktor Alfred Schmeller eine Ausstellung von der Smithsonian Institution in Washington: „Neue Figuration USA“, eine Pop-Art-Schau. Oswald Oberhuber, der nun in der Nachfolge von Schmid für die Plakate verantwortlich war, setzte einfach einen Ausschnitt eines Exponats ins Bild: ein Great-American-Nudes-Gemälde von Tom Wesselmann, der seine ästhetischen Anregungen auch häufig aus der Werbung bezog. Kurze Zeit später gab es im Künstlerhaus die Retrospektive „Der Entwicklung der Wiener Schule“ zum Phantastischen Realismus. Das Plakat, das im Atelier von Ernst Fuchs entstanden ist, präsentiert ein kaleidoskopartiges Motiv, bei dem die Schrift kaum lesbar erscheint. Auch im politischen Umfeld wurde mit den neuen Strömungen experimentiert; sie blieben allerdings die Ausnahme. Das Plakat „Young Generation für Wien“ der ÖVP blieb genauso eine singuläre Erscheinung wie das für den „Ball der Jungen Generation“ der SPÖ.

Bei der wirtschaftsnahen Werbung ging man bei diesen Experimenten doch eher sparsam vor. Eines der seltenen Beispiele ist ein Plakat, das anlässlich der Erweiterung des Warenhauses Steffl entstand. Bei Kurt Czerneys Plakat erscheint das strenge, konstruktive Logo in ornamentale Formen aufgelöst, als hätte eine Bewusstseinstrübung zu dieser Dekonstruktion geführt. Schließlich gibt es noch Beweise dafür, dass das Swinging London auch kurzfristig in Wien Station gemacht hat. Im Herbst 1969 fand eine „British Week“ in Wien statt, und das zeittypische Plakat lud zum Shoppen englischer Erzeugnisse ein. Das prämierte Plakat, das Teil einer großangelegten Werbekampagne war, stammte von dem englischen Grafikdesigner Reginald Bount. Zeitgleich fand im Künstlerhaus eine Ausstellung britischer Künstler statt. Das von Heinrich Heuer entworfene Plakat der Schau „12 britische Artisten“, das zumindest im unteren typografischen Bereich an die Ästhetik von Monty Python erinnert, führte zu einem kleinen Skandal. Das Plakat zeigt Motive aus Bildern und Skulpturen von Allen Jones, die durch Frauenfiguren in aufreizenden Posen und sexuellem Fetischismus zuzuordnender Aufmachung provozieren. Der Entwerfer spielt mit dem englischen Begriff „Artist“ und lässt einen Zirkusartisten durch einen Reifen von Jones’ Serigrafie „Right-Hand-Lady“ springen. Der britische Botschafter bestand darauf, dass die Plakate entlang der Hauptverkehrsachsen und in der Nähe der Botschaft gegen ein neutrales Motiv ausgetauscht werden sollten.

Eine weitere Stilrichtung der bildenden Kunst der sechziger Jahre war die Op-Art, wie sie etwa Bridget Riley oder Victor Vasarely vertraten. Auch im Grafikdesign wurden Anleihen dieser optischen Kunst für den Entwurf von Plakaten entlehnt. Tino Erbens Ausstellungsplakat für die Möbelfirma Svoboda mit dem Wassily-Freischwinger von Marcel Breuer (wobei die Umrahmung an Entwürfe von Charles-Rennie Mackintosh erinnert); Georg Schmids „Kinetika“-Plakat, bei dem er das Logo des Museums zu Filmstreifen aneinanderreiht, oder Peter Blauensteiners Ankündigung für eine Modeschau der Hetzendorfer Modeschule sind Beispiele dafür.

Bei der Wirtschaftswerbung stand stilistisch Mitte der sechziger Jahre die realistische Produktpräsentation im Vordergrund. Waren noch in den Fünfzigern die meisten Plakate gezeichnet, so wurden danach zumindest die beworbenen Produkte fotorealistisch oder überhaupt als Fotografie in die Bildebene integriert. Bei der Bildinszenierung ging man dazu über, auch Werte, Haltungen und Lifestyle zu verkaufen. Bei vier Plakaten aus dem Jahr 1961 kann man die verschiedenen Stile bei der Bewerbung von Produkten vergleichen. Ernst Reifenauer gestaltet ein humoristisches Sujet, um klassische Teebutter zu bewerben: ein gezeichnetes Männchen mit realistischen Versatzstücken. Als Kopf dient ein fotorealistisch gezeichnetes „Butterbrot“, als Rumpf die detailgetreue Wiedergabe des Verpackungsdesigns – übrigens eines der raren Beispiele dafür, dass sich Design aus den Fünfzigern praktisch unverändert auch heute noch im Supermarktregal finden lässt. (Im Stil einer Modeillustration stellt Walter Hauch Büstenhalter und Schlüpfer für die Firma Ganzinger zeichnerisch dar. Ein Foto wäre in diesem Falle auch nicht realistischer.) Für ein gänzlich anderes Produkt, nämlich für ein Frostschutzmittel eines multinationalen Konzerns, setzt Ernst Storch bereits ausschließlich auf das Mittel der Fotomontage. Das Produkt bzw. die Produktverpackung steht im Zentrum, umgeben von Accessoires, die der Herrenfahrer für sein automobilistisches Fortkommen benötigt. Übrigens war es Ernst Storch, der 1961 an der Graphischen das Fach Photographik einführte, um den Einsatz der Fotografie im grafischen Entwurf zu fördern.[25]

Links: 1960 / Rechts: Othmar Motter, 1964

Ein weiteres gelungenes Fotoplakat stellt Lizzi Schertz’ Sujet für Elida-Seife dar, obwohl es auf den ersten Blick gar nicht als solches erkennbar ist. Als „Projektionsfläche“ dient ein gestreiftes Badetuch; darauf – grafisch ausgewogen drapiert – finden sich Produkt, Verpackung und Text. Noch überwiegt allerdings der zeichnerische Aspekt. Deutlich wird das bei Plakaten wie Kurt Czerneys „Männer nehmen Pitralon“. Hier gilt der Grundsatz: WYSIWYG – What You See Is What You Get –, wie man das heute formulieren würde. Beim anonymen Plakat für „Mäser Elastisana“-Badeanzüge überwiegt bereits der fotografische Teil, wobei hier der stilistische Wandel im Vergleich zum Beginn der sechziger Jahre deutlich wird.

Zum Ende Jahrzehnts gibt es schließlich verstärkt reine Fotomotive auf den Wiener Plakatwänden zu sehen. Clemens Hutters und Franz Riedls unglaublich dynamische Schwarz-weiß-Fotografie für „Kästle Ski“ – nur durch den eleganten Markenschriftzug ergänzt – ist das erste wirtschaftsnahe Fotoplakat, dass von der Stadt Wien prämiert wurde.

Die Firma Franz M. Rhomberg warb mit einem Fotoplakat für ihr jugendliches Dirndl, das gleichzeitig imageträchtig betont, dass das Unternehmen offizieller Ausstatter der Austrian Airlines ist, ohne dies textlich hervorzuheben. Hier ist der Text noch von der Bildebene abgekoppelt, indem er freigestellt an die Plakatbasis montiert wurde. Beim Plakat für den schwedischen Automobilhersteller Volvo wird der werbende Slogan in das Foto integriert. Die drapierte schwedische Flagge auf der Motorhaube bricht die nüchterne Darstellung des Kraftfahrzeugs.

Wenn man ein Kunst-Fotoplakat auswählen müsste, das repräsentativ für die Wiener Kunstszene der späten sechziger Jahre ist, kann die Wahl eigentlich nur auf das Arnulf-Rainer-Ausstellungsplakat von 1968 fallen. Das grafische Basiskonzept ist von Georg Schmid, die Bildvorlage stammt vom Szenefotografen Christian Skrein, zu sehen ist der Künstler Arnulf Rainer, und er sitzt auf Walter Pichlers „Galaxy 1“-Stuhl, der bei der Möbelfirma Svoboda produziert worden ist, deren Chef damals Peter Noever war. Ein Gesamtkunstwerk also in Gemeinschaftsproduktion – fast wie in einer Werbeagentur.

Abschließend soll das Plakat im Medienmix der Sixties anhand von Kennzahlen verortet werden. Fast in jedem Text über Plakate in Wien wird betont, dass es über die Jahrzehnte hinweg keine andere Stadt gibt, in der das Plakat so dominant ist wie in Wien. Tatsächlich sind die Plakatflächen in Relation zur Bevölkerung in keiner anderen Stadt größer. So war das auch in den sechziger Jahren. Allerdings muss man diese Tatsache relativieren: Innerhalb des Medienmixes stand das „Leitmedium“ Plakat bei den Werbeformen nie an der Spitze. 1960 gab man österreichweit etwa zehn Mal so viel Geld für Anzeigenwerbung aus wie für Plakate.[26]

Auch für Film- und Hörfunkwerbung gab es mehr Budget. Am Ende des Jahrzehnts, 1969, war es ähnlich: 1,3 Mrd. Schilling für Anzeigenwerbung standen 95 Mio. für Außenwerbung gegenüber. Das Werbevolumen für Plakate hatte sich innerhalb des Jahrzehnts verdoppelt. Gleichzeitig hatte sich das Budget für Fernsehwerbung – 1968 gab es bereits eine Million Fernsehanschlüsse – verzwanzigfacht.[27] Der Aufwand der Plakatwerbung betrug dabei nie mehr als 5–6 % des Gesamtwerbevolumens.

Innerhalb der Plakatwerbung durch die Gewista ist die Verteilung der einzelnen Branchen schwankend. Im Jänner 1960 entfielen rund 70% auf Werbung für Wirtschaft und Gewerbe (davon entfiel rund ein Drittel auf Nahrungs- und Genussmittel), 27% auf kulturelle und nur 3% auf politische Plakate.[28] Insgesamt wurden in diesem Monat rund 79.000 Plakate bzw. 148.000 Plakatbogen affichiert. Im Monat vor der Nationalratswahl im November 1962 veränderte sich dieses Verhältnis dramatisch: 68% politische Plakate, 16% kulturelle Plakate und 16% Wirtschaftswerbung. Die Gesamtplakatierungsfläche stiegt auf unglaubliche 130.000 Plakate bzw. 670.000 Bogen. Auch bei den Nationalratswahlen im März 1966 verkehrte sich das Verhältnis: Im Februar betrug der Anteil an politischen Plakaten 66%, im Folgemonat nach der Wahl fiel dieser Anteil wieder auf 15%, während jener der Wirtschaftswerbung von 26% auf 75% stieg.[29] In den sechziger Jahren wurden als größtes Format 8-Bogen-Plakate (238 x 168 cm) affichiert. Nur in seltenen Ausnahmen gab es auch 16-Bogen-Plakate (238 x 336 cm). Ab 1964 wurden sporadisch auch 24-Bogen (238 x 504 cm) plakatiert. Jedenfalls sorgte die Gewista für eine akkurate Plakatierung, was auch ausländischen Gästen nicht verborgen blieb. Sie waren teilweise von den Plakatanschlagstafeln mehr beeindruckt als von den Plakaten selbst: „Kommt man auf Reisen nach Wien, so fallen einem gleich die großzügig und sauber angelegten Plakatanschlagflächen auf; es fehlt das Kleinkarierte und Dilettantische. Man entdeckt kaum Zeichen von Vernachlässigung und fehlender Organisation des Anschlagwesens.“[30]

[1] Robert Waissenberger: Galerie der Straße. 10 Jahre Plakatwertungsaktion des Kulturamtes der Stadt Wien, Wien 1961, o. S.
[2] Vgl.: Graphik, Werbung und Formgebung. Die Zeitschrift für die werbende Wirtschaft, München, Heft Dezember 1968, S. 24, außerdem: Modern Publicity 1964/1965, London 1965, S. 65
[3] David Ogilvy, Geständnisse eines Werbemannes, Düsseldorf-Wien-New York 1991, S. 162
[4] Walter Lürzer (Hrsg.): Schlagobers. 30 Jahre Werbung von Demner, Merlicek & Bergmann, Wien 2000, S. 5
[5] Gezielte Werbung. Nachrichtenblatt für Verkaufsförderung, Heft 5, 1967, S. 6
[6] Gezielte Werbung. Nachrichtenblatt für Verkaufsförderung, Heft 9, 1966, S. 6
[7] Erwin K. Bauer: Die Stimme der Straße. Kulturgut Plakat, in: Tulga Beyerle, Karin Hirschberger (Hrsg.): Designlandschaft Österreich 1900–2005, Basel 2006, S. 60ff
[8] Agnes Husslein-Arco (Hrsg.): 20 ››› 21. Das 20er Haus, Wien 2009
[9] Hans Fabigan: Österreichische Werbe- und Illustrationsgraphik, in: Graphis, Juli/August 1960, Heft 70, S. 300–309; Eberhard Hölscher: Austria, ein werbegrafischer Querschnitt, in: Gebrauchsgraphik, September 1967, S. 6–19; N.N.:Werbegraphik aus Österreich, in: Graphik, Heft 12, 1968, S. 24
[10] Walter Amstutz (Hrsg.): Who’s Who in Graphic Art. Ein internationales illustriertes Handbuch führender Gebrauchsgraphiker, Illustratoren, Typographen und Karikaturisten, Zürich 1962. (Daneben fanden noch die freien Künstler Paul Flora, Hans Fronius, Oskar Kokoschka und Alfred Kubin Erwähnung.)
[11] Fabian Wurm: Von der Gebrauchsgrafik zur Visuellen Kommunikation, in: Kai Buchholz, Klaus Wolbert (Hrsg.): Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten, Darmstadt 2004, S. 884
[12] 2009 änderte der BDG seinen Namen in „Berufsverband der deutschen Kommunikationsdesigner“. Den Begriff „Graphic Designer“ prägte als erster W. A. Dwiggins im Jahr 1922. Vgl. Steven Heller: Advertising, Mother of Graphic Design, in: Grace Lees-Maffei, Rebecca Houze (Hrsg.): The Graphic History Reader. Oxford–New York 2010, S. 435
[13] Julia König-Rainer: Erziehungsarbeit per Plakat, in: Dies. (Hrsg.): 50er Plakate aus der Sammlung der Wienbibliothek, Wien 2009, S. 49f.
[14] Arbeiter-Zeitung, 27. 5. 1961
[15] Arbeiter-Zeitung, 30. 5. 1961
[16] Ausstellungskatalog „Internationale Gebrauchsgraphik. Alliance Graphique Internationale“, Wien 1966, o. S.
[17] Peter Baum: Internationale Gebrauchsgraphik. Ausstellung der AGI, in: Alte und moderne Kunst, Heft 86, Mai/Juni 1966, S. 50
[18] Alfred Proksch: Milchpropaganda – für die Katz!, in: Mitteilungen des Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker (MBÖG), Nr. 100, November 1960, S. 3
[19] Im Gegensatz zum einflussreichen Entscheidungsgremium des Vorstandes lag der Anteil der Frauen bei den einfachen Mitgliedern 1962 bei 22 % – insgesamt hatte der BÖG 316 Mitglieder, davon 70 Frauen.
[20] Heiri Steiner: AGI, in: Graphis, Heft 115, 1964, S. 430–436. Teilnehmer waren u. a.: F. H. K. Henrion, Präsident (London), Will Burtin (New York), Erberto Carboni (Mailand), Eugenio Carmi (Genua), Germano Facetti (London), Guy Georget (Paris), Richard Guyatt (London), Georg Him (London), Georges Mathieu (Paris), Josef Müller-Brockmann, Jacques Nathan-Garamond (Paris), Jacques Richez (Brüssel), Willem Sandberg (Amsterdam), Raymond Savignac (Paris), Anton Stankowsky (Stuttgart) und Heiri Steiner (Zürich).
[21] Kern 2008, S. 269f.
[22] Vgl.: Anita Kern, Bernadette Reinhold, Patrick Werkner (Hg.): Gafikdesign von der Wiener Moderne bis heute. Von Kolo Moser bis Stefan Sagmeister, Wien 2009, S. 132ff.
[23] Sally Tomlinson: Zeichensprache: Die Formulierung einer Sprache des Psychedelischen in der Plakatkunst der 60er Jahre, in: Christoph Grunenberg (Hrsg.): Summer of Love. Psychedelische Kunst der 60er Jahre, Ostfildern-Ruit 2005, S. 123
[24] Lore Kasbauer: Die Litfaßsäule zu Hause, in: Kurier Illustrierte. Beilage zum Kurier vom 30. 3. 1968, o. S.
[25] Veronika Pfolz: Wissenschaftlicher Exkurs, in: Die Graphische (Hg.): 100 Jahre Graphik-Design Ausbildung an der Graphischen, Wien 2007, S. 21
[26] WWG Informationen, hrsg. von der Österreichischen Werbewissenschaftlichen Gesellschaft, Folge 42, Juli 1969, S. 12: 540 Mio. Schilling für Anzeigenwerbung, 50 Mio. Schilling für Plakatwerbung
[27] WWG Informationen, Folge 45, Juli 1970, S. 4
[28] WWG Informationen, Folge 16, Mai 1960, S. 11
[29] WWG Informationen, Folge 34, Juli 1966, S. 9
[30] Herbert Schindler: Monografie des Plakats. Entwicklung, Stil, Design, München 1972, S. 207f

Erstveröffentlichung unter:
Christian Maryška:
Das Ende des „goldenen Zeitalters der Agenturlosigkeit“. Die Sixties, die Plakate und die Werbung in Wien, in: König-Rainer, Julia (Hrsg.): 60er Plakate aus der Sammlung der Wienbibliothek, Wien 2011 (=Mattl-Wurm, Sylvia [Hrsg.]: Plakate aus der Sammlung der Wienbibliothek, 3. Bd), S. 14 – 29.