Die Linie unserer Zeit – Julius Klinger als Buchgestalter und Buchillustrator

Detail aus dem Cover für das Buch „Renée und die Männer“ von Julius Klinger, 1910

Österreichs Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist reich an interessanten Persönlichkeiten, deren Leben und Werk einer genaueren Beschäftigung wert sind. Vieles gäbe und gibt es zu entdecken, was in diesem Feld der Geschichte verdeckt ist oder auch bewusst zugeschüttet wurde.

Die Beschäftigung mit der Kultur um 1900 etwa hat in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einiges zu Tage gefördert, doch das Dekor jener Zeit wurde zur einer Art Motto für die Beschäftigung mit den kulturellen Phänomenen: Man blieb selbst im Dekorativen verfangen. Tiefgang wurde in der Auseinandersetzung mit Österreichs Kulturgeschichte von Seiten der staats- oder kommunalgetragenen Institutionen selten angestrebt. Auch abseits der von öffentlicher Hand beauftragten und finanzierten Repräsentationsveranstaltungen, wie vor allem Besucherrekorde anstrebender Großausstellungen, fanden – bis auf Ausnahmen – Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker im sich meist im Zehnjahresrhythmus bewegenden Gedenktage-Business wenig Zeit, sich anderem als den Themen des Mainstreams zu widmen.1

Eine jene Persönlichkeiten, die es wert sind, sich näher mit ihnen zu beschäftigen, ist der “Plakatkünstler und Zeichner”2 Julius Klinger. Er gehört – auch wenn Wertungsfragen immer schwer zu beantworten sind – wohl zu den wichtigsten europäischen Künstlern seiner Zeit, ohne dass ihm gerade in den Ländern seines hauptsächlichen Wirkens, nämlich in Deutschland und Österreich, die ihm gebührende Anerkennung zuteil geworden wäre. Er hat wegweisende, international weithin rezipierte Trends im Bereich des Graphic designs gesetzt.3

Julius Klinger wurde am 22. Mai 1876 in Wien als Sohn des Kaufmannes Josef Klinger und dessen Frau Luise (geborene Blau) geboren.4 Nach dem Besuch von Volks- und Unterrealschule absolvierte er von 1891 bis 1894 das “Technologische Gewerbemuseum”. Danach trat er als Volontär in die “Wiener Graphische Industrie A.G.” ein und arbeitete daneben als Privatschüler im Atelier von Kolo Moser mit. Auf dessen Vermittlung ging Klinger 1896 nach München als Illustrator zu den “Meggendorfer Blättern”. 1897 übersiedelte er nach Berlin, wo er als Zeichner bei der vom Wiener Otto Eysler gegründeten Zeitschrift “Lustige Blätter” arbeiten konnte. Sein Einstand in der Buchillustration konnte deutscher nicht sein, zeichnete er doch für den 1898 erschienenen Band “Bismarck´s Humor” das Titelblatt.5 Klingers Art der Buchgestaltung schien dem Geschmack der Zeit zu entsprechen: 1900 entwarf er gleich drei Bucheinbände für den Berliner Verlag F. Fontane.6

Mit dem deutschen Maler und Graphiker Albert Knab gründete Klinger in Berlin zunächst ein Atelier. Man bot, wie einem in der Berliner Kunstbibliothek erhaltenen gebliebenen Inseratenbrief zu entnehmen ist, “Originalentwürfe für die Graphischen Künste und für alle Gebiete des Kunstgewerbes” an.7

“Mit Knab verband Klinger”, wie Anita Kühnel schreibt, “ein Interesse an den vom Wiener Jugendstil ausgehenden künstlerischen Impulsen. Sie waren für Klingers ornamentale Figurenauffassung prägend wie auch das große Vorbild Aubrey Beardsley. Seine frühen Illustrationen zeugen davon ebenso wie seine Vorlagenbücher ´Das Weib im modernen Ornament´ und ´Die Grotesklinie und ihre Spiegelvariation im modernen Ornament und in der Dekorationsmalerei´ von 1901 und 1902.”8

Die beiden erwähnten Musterbücher lassen neben den starken Einflüssen von Klingers britischem Idol Beardsley auch die Inspiration durch das französische Art nouveau spüren. Die Nähe zu französischen Gestaltungsvorstellungen beweist die Tatsache, dass beide Werke nicht nur in deutschen Verlagen,9 sondern auch in Paris bei der “Libraire de l´art ancien et moderne”10 erschienen sind. Dementsprechend steht in der deutschen Ausgabe der “Grotesklinie” auch der Vermerk angeführt: “Die Einführung der deutschen Ausgabe nach Frankreich, Italien, Belgien und franz. Schweiz ist verboten und strafrechtlich verfolgt.”

“Die Grotesklinie und ihre Spiegelvariationen im modernen Ornament und in der Dekorationsmalerei” präsentierte Arbeiten von Klinger und Hanns Anker, wobei Klinger die konzentrierten, stärker abstrahierenden Graphiken ablieferte. In der Einleitung schrieben die beiden Künstler:

“Wer heutzutage bei der großen Fülle von Vorlagewerken, die – leider – den Markt überfluten und die häufig genug für die Praxis nicht verwendbar sind, dem Fachpublikum ein Buch anbietet, das beachtet werden soll, muss sich darüber klar sein, dass er nur dann auf Erfolg und Anerkennung rechnen kann, wenn er in diesem Werke neue Ideen kundgibt und in seiner Arbeit einen neuen Weg beschreitet.

Dies versuchen wir in dem vorliegenden Werke, indem wir dem Architekten, dem Ornamentzeichner, dem Maler, dem Kunstgewerbetreibenden eine Grammatik des modernen Ornaments, des neuen Stils zur Verfügung stellen.”11

Das Buch über die Frau im “modernen Ornament” war den topaktuellen Prinzipien der Flächenkunst verhaftet, Klinger zeigte sich nicht nur im Formalen als Modernist, neben Darstellungen der Frau als erotisches “Dekor” und sinnlichen Zierleisten stellte er auch moderne, fotografierende, autofahrende oder tennisspielende Vertreterinnen der Damenwelt dar.

Dass die Arbeiten über Jahrzehnte als Vorlagenwerk für Zeitschriften, Werbung, aber auch für Buchgestaltungen eine “vorbildliche” Wirkung hatten, zeigt, dass die Werke ab der Mitte der 1980er Jahren im amerikanischen Verlag “Dover Publications” immer wieder aufgelegt wurden, wobei dabei jeweils eine französischen Ausgabe die Vorlage bildete.12 Die mehreren Auflagen und der Vermerk auf der letzten Ausgabe 2007 “423 royalty-free designs” unter Beigabe einer CD-Rom belegen, dass diese Entwürfe nach wie vor bei Praktikern Verwendung finden.

Mit den beiden Musterbüchern konnte sich Klinger sowohl in Deutschland als auch, mit den französischen Ausgaben, international relativ rasch als Gestalter und Illustrator positionieren. Wichtig war diesbezüglich auch die durch Klinger erfolgte optische Betreuung von Ernst Growalds “Der Plakatspiegel”.13 Bei diesem wichtigen Ratgeber für die boomende Reklameszene sorgte er für Satz und Buchschmuck. Zu jener Zeit, in der das Buch erschien, hatte Klinger bereits einiges Ansehen in der Fachwelt gewonnen. Mit seinen zeitgemäßen Werbeentwürfen, vor allem mit den modernen Werbeplakaten, feierte er große Erfolge. In den fast zwei Jahrzehnten seiner Berliner Zeit wurde er zu einem der wichtigsten Vertreter deutscher Gebrauchsgraphik und schuf nach eigenen Angaben “einige Tausend reproduzierte Arbeiten für Handel, Industrie und Gewerbe”.14

Neben der wegweisenden Art der Plakatgestaltung schuf Klinger vor allem für die Verlage Ullstein, Scherl und Mosse zahlreiche Illustrationen.

Für den Berliner Verlag Egon Fleischel, der für österreichische Autoren eine sehr wichtige Rolle spielte,15 entwarf Klinger einige Zeichnungen zu Schutzumschlägen und Einbänden. So für eine Reihe von Raoul Auernheimer-Ausgaben, wie etwa für “Die ängstliche Dodo”,16 “Die man nicht heiratet”,17 “Rosen die wir nicht erreichen”18 oder “Gesellschaft”.19 Für den selben Verlag gestaltete er auch Umschläge für Werke anderer Autoren, wie etwa Kurt Aram20 oder Ludwig Bauer.21 Dabei setzte er auf eine sparsame, sensible Linienführung, manchmal liebte er es auch, wie in seinen vielen Zeitungsillustrationen, die Sujets ironisch zu überzeichnen, wie überhaupt meist ein feiner Humor ein wichtiger Begleiter seiner künstlerischen Arbeit war. Dies stellte er auch mit seinen Zeichnungen für die von Rudolf Bernauer und Carl Meinhard herausgegebene Parodie “Die Kunst im Leben des Kindes”22 und die Illustrationen zu Bernauers “Lieder eines bösen Buben”23 unter Beweis.

Der italienische Kunstexperte Giovanni Fanelli analysierte Klingers Entwicklungsphase in diesen Jahren folgendermaßen:

“Um 1907 ist er damit beschäftigt, seinen Stil mit Ausdruckformen anzureichern, die er bei Klimt und Beardsley, zeitgenössischen Russen und in den Farbholzschnitten der Japaner entdeckt hat. Dabei geht es ihm um höchste Sublimierung der Linie, um den Effekt von Schwarz-Weiß-Kontrasten und die gleichmäßige Aneinanderreihung kleinster Schmuckformen zu Mustern.

Eine Federzeichnung Klingers in Schwarz-Weiß gewinnt durch das Vollkommenheitsstreben, das sie verrät, ungeachtet ihrer rein illustrativen Funktion einen autonomen künstlerischen Wert. Als reine Kunstwerke zeigt Klinger denn auch solche Zeichnungen gelegentlich in Ausstellungen, etliche seiner Blätter werden in Kunstzeitschriften veröffentlicht. Lineare Eleganz, von Klimt inspiriert, verbindet sich bei diesen Blättern mit einer genau berechneten Verteilung schwarzer und weißer Flächen, die deutlich das Vorbild Beardsleys erkennen lässt. Typisch wienerisch ist schließlich die Verwendung von Mustern zur überleitenden Vermittlung der Schwarz-Weiß-Kontraste.”24

In diese von Fanelli sehr genau beschriebene Periode fiel die vielleicht wichtigste und in der Folge oft publizierte buchkünstlerische Arbeit von Klinger, die eigentlich sehr diskret und äußerst exklusiv begann. Es handelt sich dabei um die luxuriös angelegte Ausgabe von “Sodom”, die Fanelli als ein “Hauptwerk der Buchillustration” bezeichnet.25

Ob das fünfaktige pornographische Theaterstück “Sodom, or the Quintessence of Debauchery” tatsächlich vom anerkannten englischen Lyriker des 18. Jahrhunderts, John Wilmot, Earl of Rochester, stammt, konnte bis dato nicht eindeutig bewiesen werden. Die nach einer in der Hamburger Stadtbibliothek vorhandenen Abschrift von Theophil Marquardt ins Deutsche übersetzte Ausgabe schreibt den Text jedenfalls dem 2nd Earl of Rochester zu. Das als Privatdruck publizierte Werk wurde in 350 nummerierten Exemplaren für Subskribenten herausgegeben.26

Das Buch ist in lachsroter Moiréseide mit Goldprägungen gebunden, Klinger hat 14 ganzseitige Schwarz-Weiß-Zeichnungen und zwei Farbillustrationen beigesteuert.

Der derbe, zum Teil zotige Inhalt, der auch als eine politische Satire auf den Hof des englischen Königs Karl II gelesen werden kann, wurde durch Klingers Zeichenkunst elegant ironisch, aber nicht minder deutlich, konterkariert – das Werk repräsentiert eine Art “Porno Chic” der Jahrhundertwende.

Obwohl – oder vielleicht auch weil – in der Erstausgabe vermerkt ist “Der Verleger übernimmt gegenüber den Subskribenten die ausdrückliche Verpflichtung, niemals einen Neudruck zu veranstalten oder veranstalten zu lassen”, kam es zu mehreren Nachdrucken des Werkes.27

Der Vorabend des Ersten Weltkriegs zeichnete sich durch eine verstärkt “patriotische” Buchproduktion in Deutschland aus. Klinger übernahm für zwei derartige Bücher, in denen die Schönheit der Heimat gepriesen wurde, die Ausstattung.28

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs hatten sich auch die Produktionsbedingungen für angewandte Künstler dramatisch verschlechtert. Die Arbeit musste sich an den radikal veränderten Marktbedingungen orientieren. Auch Klinger musste sich den propagandistischen Bedürfnissen der Zeit beugen. So zeichnete er für die polemische Schrift “Das perfide Albion” das Umschlagbild, das die Karikatur eines geldgierigen Briten im Schottenrock zeigt.29 Im Vergleich zu dem, was in diesen Jahren sonst an Bildhetze veröffentlicht wurde, gelang es Klinger trotz der eindeutigen Aufgabenstellung noch dezent zurückhaltend zu bleiben.

1915 ging Julius Klinger nach Wien zurück, wo er seinen Wehrdienst im k.u.k-Kriegsarchiv absolvierte. Dort hatte er sich neben vielen anderen bildenden Künstlern und Autoren in den Dienst der österreichischen Kriegspropaganda zu stellen. In diesen Jahren gelang ihm mit seinem Plakat zur 8. Kriegsanleihe nicht nur eine international weithin beachtete und oft publizierte Arbeit, sondern er trug auch zur Gestaltung einschlägiger “patriotischer” Buchproduktion bei, wie etwa die Umschlagzeichnung zu Walter Kulkas “Durch Kampf zum Sieg! Märchen aus unseren Tagen für Jung und Alt”30 beweist.

Nach dem Krieg blieb Klinger in Wien und eröffnete in der Schellinggasse 6 im 1. Wiener Gemeindebezirk ein Atelier, in dem er auch Kurse für moderne Gebrauchsgraphik abhielt. Von da an veränderte er als Graphiker, Lehrer und Theoretiker die österreichische angewandte Graphik in nachhaltiger Weise. Die Österreichische Nationalbank zeigte nicht nur in ihrem architektonischen Erscheinungsbild Sinn für die Qualität der Moderne, sie beauftragte Klinger auch mit der “Propagandaleitung und Anfertigung sämtlicher Drucksachen”. Noch im Jahr 1919 führte Klinger eine Großkampagne für “Tabu”-Zigarettenpapier durch, die nicht nur aus einer Fülle origineller Inserate und Plakate bestand, sondern mit einer neuen Art der Großflächenwerbung das Stadtbild Wiens veränderte. Mit der Verbreitung seiner Arbeit prägte Klinger auch wohl die ästhetischen Anschauungen weiter Teile der Bevölkerung. Für Buchgestaltungen blieb da offenbar weniger Zeit. Aus dem Beginn der zwanziger Jahre ist im Wesentlichen nur die Vorderdeckelillustration für Arthur Rundts Werk “Mausefalle”, das im Verlag Frisch erschien, nachzuweisen.

1923 meldet sich Klinger im Bereich der Buchdesigns umso intensiver im eigenen Auftrag zurück. Mit einigen Schülern und Mitstreitern, wie Hermann Kosel, Rolf Frey oder Wilhelm Willrab, gab Klinger als gemeinsamen Leistungsnachweis und als internationale Bewerbung der Wiener Szene das Musterbuch “Poster Art in Vienna”31 heraus. Die durchgehend in englischer Sprache veröffentlichte Publikation hatte das Ziel, den von Klinger bestimmten “Wiener Stil” vor allem im angloamerikanischen Raum zu vermarkten, was auch relativ gut gelang. Es ist anzunehmen, dass sich Klinger die Gestaltung des großzügig und in kühler Eleganz gehaltenen Werkes als Doyen der Gruppe vorbehielt. In der Art der Präsentation von Graphic design ist der Bildband im buchstäblichen Sinn selbst zu einem “Musterbuch” für avantgardistische Buchgestaltung geworden.

 In dem Buch ist unter anderem auch das Verlagssignet von Moritz Perles, das Julius Klinger neben dem Geschäftszeichen in der Wiener Seilergasse entworfen hat, abgebildet.32

Noch mehr gestalterische Zurückhaltung zeigte Klinger ein Jahr später beim Erscheinungsbild seiner Publikation “Das Chaos der Künste”. In dem kleinen Büchlein publizierte er einen Vortrag, den er – seinen Vorbildern Karl Kraus und Adolf Loos nacheifernd – am 21. Dezember 1924 im Wiener Konzerthaus gehalten hatte. Darin präsentierte er sich als radikaler Vertreter des Funktionalismus und als Anhänger der amerikanischen Lebensform. Und wieder widmete er sich dabei seinem eigentlichen Lebensthema, der richtigen Linie:

 “DIE LINIE UNSERER ZEIT IST DIE LEICHTGESCHWUNGENE KURVE. DAS TYPISCHE LINIENGEBILDE DIESER KUNSTEPOCHE VERKÖRPERT SICH IM SCHLANKEN, SCHNITTIGEN, SPÄHRISCHEN ZWEIECK, UNSERE LINIE IST, DA SIE DEN KAMPF MIT DEN ELEMENTEN AUFNIMMT, VOLL ENERGIE UND KRAFT. Unsere Linie ist ZURÜCKHALTEND, ÖKONOMISCH, GESTRAFFT, ELEGANT, TROTZIG und MÄNNLICH.”33

Die Rede schließt mit den Worten: “Eine alte, ehrwürdige Kunstwelt neigt sich erschöpft vor Schwäche nach vorne über und will, haltlos geworden, in Trümmer sinken. Neue Erkenntnis von umwälzender Tragweite dämmert noch unbestimmt am Zukunftshorizont. Schon sind neue Menschen am Werk, den tönernen Götzen zu untergraben, noch sind ihre Kräfte zu schwach den Kunstpopanz zu stürzen, doch langsam kündet sich das Nahen des neuen Tages an, der dem neuen Geist die neue Form schenken wird”.34

Die 19 cm x 14 cm große Broschüre kommt – eigenartig für die Publikation eines überaus erfolgreichen Zeichners, aber entsprechend der Ideologie, die er in seinem Vortrag verkündete – ohne Illustration oder sonstiges dekoratives Beiwerk aus. Trotz der einfachen Klebebindung und der Kleinheit der Publikation hat schon der Umschlag eine elegante Anmutung. Auf einen braunen, naturfarbenen Karton ist zentriert ein rotgerahmtes Quadrat geklebt. In der weiß gehaltenen Fläche sind in schwarzen Versalien Autor und Titel des Buches aufgedruckt.

Klinger ist in Wien einen immer radikaleren Weg der formalen Reduktion gegangen, was gerade angesichts des damals aufkommenden Art deco seiner Auftragslage nicht gerade zuträglich war. An der Seite von Adolf Loos attackierte er insbesondere Josef Hoffmann und die Wiener Werkstätte, was ihm sogar einen verlorenen Ehrenbeleidigungsprozess einbrachte.35

Kein Zufall, dass die Entwicklung Klingers immer mehr weg von der Illustration, weg vom Dekor hin und zum reinen Funktionalismus typographischer Gestaltung ging. Die ideale Linie war für Klinger in den späten zwanzig und dreißiger Jahren die Schrift als höchstmöglich funktional gehaltene Vermittlung von Information. Sein Leben lang hat sich Klinger mit Schriftgestaltung beschäftigt. Laut Hans Ankwicz-Kleehoven, der dem Künstler persönlich nahe stand und der die offizielle Biographie im Künstlerlexikon Thieme – Becker verfasste, hatte Klinger schon 1898 eine fette Antiqua entworfen und sich seitdem immer wieder mit dem Thema beschäftigt.36

In den Jahren 1912/1913 gestaltete Klinger für die Schriftgießerei H. Berthold eine eigene Schrift unter dem Namen “Klinger-Antiqua”37 mit entsprechender halbfetter Variante und passendem graphischem Schmuck und Ornamenten.38 Die Schrift wurde jedoch erst mit Verzögerung nach dem Krieg und der Fusion der Firma Berthold mit “Emil Gursch” publiziert.39

1926 veröffentlichte Klinger die gemeinsam mit Wilhelm Willrab und Otto Frey erarbeitete “Klinger Type”, die bei der “Schriftguß-Ag vorm. Brüder Butter” in Dresden produziert wurde. Durstmüller charakterisierte sie als “eine gezeichnete (nicht geschriebene) feine lineare Antiqua, die zwischen Jugendstil, Larisch-Schule und elementarer Typographie einen eigenständigen Charakter entwickelte und sich besonders für Drucksorten vornehmen Charakters eignete.”40

Die Schrift war schon von der zeitgenössischen Fachwelt sehr positiv aufgenommen worden. Karl Stolik schrieb dazu in der “Graphischen Revue”: “Klinger suchte seit dem Kriegsende nach einer neuen Type, die das Bild ihrer Zeit tragen sollte. Trotzdem er die Wiederverwendung klassischer Drucktypen ablehnte, wußte er doch, welch vornehme Ruhe gerade diesen Schriften innewohnt, und war bemüht, auch in seine Schöpfung etwas von dieser klassischen Ruhe zu bringen. Dies gelang ihm vollkommen. Er stellte nämlich die Theorie auf, daß Ruhe nur kommen kann aus den Linien, aus nüchterner Sachlichkeit; Schönheit nur aus Zweckmäßigkeit.”41

Das Jahr 1926 war auch in anderer Weise dem Thema Schrift gewidmet: Klinger beteiligte sich anlässlich der Jubiläumsschau aus Anlass des 70. Geburtstages von Rudolf Larisch im “Museum für Kunst und Industrie” mit einigen schriftbezogenen Werken.

Die von verschiedenen Internetfirmen seit 2003 angebotene Schrift “Julius Klinger” stammt nicht von ihm selbst, sondern wurde vom amerikanischen Designer Andrew Leman aus verschiedenen Arbeiten Klingers aus der Mitte der zwanziger Jahre zusammengestellt, zeigt aber auch wie stark der Name des Künstlers im amerikanischen Raum bis heute präsent ist.42

So wie bei “Chaos der Künste” setzte Klinger bei zwei Einbänden, die er 1929 für Publikationen des Tal-Verlages entwarf, ganz auf die Gestaltung der Schrift und verzichtete dabei vollkommen auf jede Art von Illustration. Bei den beiden Werken handelt es sich um das “Bänkelbuch”,43 herausgegeben von Erich Singer, und “Die Cabala” von Thornton Wilder.44 Für den Tal-Verlag hat Julius Klinger höchst wahrscheinlich auch das erste Verlagslogo entworfen.45

1934 beteiligte sich Klinger an einer Berliner Ausstellung zum Thema “Die Schrift im Plakat”.

Seine wahrscheinlich letzte öffentliche Arbeit war ein typographisch gestaltetes Plakat für die Wiener Brotfabrik “Ankerbrot” und trug groß die Zahl des österreichischen Schicksalsjahres “1938”.

Ab März 1938 war Julius Klinger aufgrund des “Anschlusses” Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland als Jude brutaler Repressalien ausgesetzt. Am 2. Juni 1942 wurde er gemeinsam mit seiner Frau Emilie festgenommen und nach Minsk deportiert, wo er wahrscheinlich noch im selben Jahr ermordet wurde.

Der physischen Vernichtung folgte lange Zeit die dumpfe Ignoranz gegenüber den Qualitäten und Leistungen der Opfer. Doch zumindest gegen diese Art der Verdrängung sollte die relativ einfache Gegenstrategie der Erinnerung Abhilfe schaffen können.

Erstveröffentlichung dieses Artikels in:
Renner, Gerhard – Wendelin Schmidt-Dengler – Christian Gastgeber (Hrsg.): Buch und Provenienzforschung. Festschrift für Murray G. Hall zum 60. Geburtstag, Wien 2009, S. 63 – 76.

 
 
1 Murray Hall hat sich mit unvoreingenommenem Sinn wenig beachteten Themen österreichischer Kulturgeschichte gewidmet und damit wichtige Arbeiten zur Geschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Deshalb sei ihm dieser Artikel gewidmet.
2 Kühnel, Anita: Julius Klinger. Plakatkünstler und Zeichner, Berlin 1997 (=Bilderheft der Staatlichen Museen zu Berlin, 89. Heft).
3 Vgl. dazu etwa als nur einige Beispiele für die internationale Wahrnehmung seiner Arbeit: Jones, Sydney R.: Art and Publicity. Fine Printing and Design, London 1925, S. 60 ff.; Jones, Sydney R.: Posters and Publicity. Fine Printing and Design, London 1926 (=Special Autumn Number of “The Studio” 1926, S. 89; Meggs, Philip B.: A History of Graphic Design, New York 1991, S. 251 ff.; Weill Alain: L´Affiche dans le Monde, Paris 1991, S.189 (“Avec Bernhard, l´un des affichistes berlinois le plus importants”); Hollis, Richard: Graphic Design. A Concise History, London 1994, S. 35.
4 Die folgenden Daten stammen von einem 1929 vom Künstler selbst verfassten Lebenslauf, publiziert und kommentiert von Burkhard Sülzen, in: Kühnel, s. Anm. 2, S. 23 ff.
5 Gottwald, Alfred: Bismarck´s Humor – Heiteres aus dem Leben und Wirken des Altreichskanzlers, Berlin, Pauli´s Nachfolger, 1898.
6 Polenz, Wilhelm von: Thekla Lüdekind. Die Geschichte eines Herzens, Berlin, Fontane, 1900; Tolstoj, Lev N.: Auferstehung. Roman, Berlin, Fontane, 1900; Zobeltitz, Fedor von: Besser Herr als Knecht. Roman, Berlin, Fontane, 1900.
7 Kühnel, s. Anm. 2, S.6 u. 89 f.
8 Ebenda, S. 6 f.
9 Klinger, Julius: Das Weib im modernen Ornament, Leipzig, Baumgärtners Buchhandlung, [1902].
10 Klinger Julius – Hanns Anker: La ligne grotesque et ses variations dans la décoration moderne, Paris, Libraire de l´art ancien et moderne, [1901].
11 Klinger , Julius – Hanns Anker: Die Grotesklinie und ihre Spiegelvariation im modernen Ornament, Berlin – Köln, Kanter & Mohr, 1901, S. 3.
12 Klinger, Julius – Hans Anker: Ornamental motifs in the Art Nouveau style, Mineola, NY 1985; Klinger, Julius – Hanns Anker: 422 art nouveau designs and motifs in full colour, Mineola, NY 1999; Klinger, Julius – Hanns Anker: 423 art nouveau designs and motifs, Mineola, NY 2007; Klinger, Julius: The woman in art nouveau decoration, New York 1985.
13 Growald, Ernst: Der Plakatspiegel. Erfahrungssätze für Plakat-Künstler und Besteller, Berlin, O.L. Salomon, 1904.
14 Angabe aus Klingers “Lebenslauf”, s. Anm. 4.
15 Hall, Murray: Österreichische Verlagsgeschichte, Wien – Köln – Graz 1985, 1. Bd, S. 11.
16 Auernheimer, Raoul: Die ängstliche Dodo. Novellen, Berlin, Fleischel 1907.
17 Auernheimer, Raoul: Die man nicht heiratet. Novellen, Berlin, Fleischel 1908.
18 Auernheimer, Raoul: Rosen die wir nicht erreichen, Berlin, Fleischel 1911.
19 Auernheimer, Raoul: Gesellschaft. Mondäne Silhouetten, Berlin, Fleischel 1910.
20 Aram, Kurt, Die vornehme Tochter. Geschichten und Skizzen, Berlin, Fleischel, 1908.
21 Bauer, Ludwig: Der Königstrust. Eine Operette ohne Musik, Berlin, Fleischel, 1910.
22 Bernauer, Rudolf – Carl Meinhard (Hrsg.): Die Kunst im Leben des Kindes. Ein Wort zur Abwehr gegen den “Struwwelpeter” und zur Reform des Hampelmannes, Berlin, Harmonie, [1904].
23 Bernauer, Rudolf: Lieder eines bösen Buben, Berlin, Harmonie, [1907].
24 Fanelli, Giovanni: Wiener Jugendstil. Die Druckgraphik, Frankfurt am Main – Berlin 1992, S. 67.
25 Ebenda, S. 68.
26 Wilmot John, Earl of Rochester: Sodom. Ein Spiel, Privatdruck, Leipzig 1909.
27 Wien, Volosca, A.Trianta, 1924 (=Bibliotheca erotica et curiosa, 14); München, Willing 1969; München, Heyne, 1981; Dortmund, Harenberg, 1983(= Die bibliophilen Taschenbücher, 368).
28 Bloem, Walter: An heimischen Ufern. Hrsg. v. Franz Goerke unter Mitwirkung nahmhafter Kunst-Photographen (“Die Initialen zeichnete Fritz Salender, den äußeren Umschlag Carl Vogel, die übrige Ausstattung entwarf Julius Klinger – sämtlich Berlin”), Berlin, Vita Dt. Verlagshaus, 1912; Fürst, Artur: Das Reich der Kraft, Ausstattung von Carl Vogel und Julius Klinger, Berlin, Vita Dt. Verlagshaus, 1912.
29 Geiser, Alfred: Das perfide Albion, Bielefeld – Leipzig, Velhagen & Klasing 1914 (=Velhagen & Klasings Volksbücher Nr.124).
30 Kulka, Walter: Durch Kampf zum Sieg! Märchen aus unseren Tagen für Jung und Alt, Wien, Roller, 1915.
31 Poster Art in Vienna, Chicago 1923.
32 Hall, s. Anm. 15, S. 72.
33 Klinger, Julius: Das Chaos der Künste. Ein Vortrag gehalten am 21. Dezember 1924 im Wiener Konzerthaus, Wien, R. Brettschneider, S. 8.
34 Ebenda, S. 30.
35 Ausführlich dazu: Schweiger, Werner: Wiener Werkstätte. Kunst und Handwerk 1903 – 1932, Wien 1982, S. 117 ff.
36 Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig 1927, 20. Bd, S. 512 f.
37 Klinger, Julius: Klinger-Antiqua. Ornamente und Schmuck, Berlin [1920] (=Berthold-Heft 202).
38 Schweiger, Werner J,: Aufbruch und Erfüllung. Gebrauchsgraphik der Wiener Moderne 1897 – 1918, Wien – München 1988, S. 170 ff.
39 Kühnel, s. Anm. 2, S. 17.
40 Durstmüller, Anton: 500 Jahre Druck in Österreich, Wien 1982, 3. Bd, S.95.
41 Graphische Revue, 1926, 4.H., S. 90, zit. nach: Kühnel, s. Anm. 2, S. 17.
42 z.B.: MyFonts – Julius Klinger; MyFonts – Julius Klinger; Identifont – Julius Klinger.
43 Singer, Erich: Bänkelbuch. Neue deutsche Chansons, Wien – Leipzig, Tal, 1929.
44 Wilder, Thornton: Die Cabala, Wien-Leipzig, Tal 1929.
45 Hall, s. Anm. 15, 2. Bd, S. 436 ff.