Mihály Biró, der Altmeister des ungarischen politischen Plakates, wurde am 30. November 1886 in Budapest geboren. Er gehörte zu jener Generation, über die zwei Weltkriege hinweggegangen sind. Dieses Erleben brachte eine enge Verbindung zwischen seinem Engagement, den historischen Vorgängen und seinem Plakat. Dabei trafen sich sein gesellschaftliches und künstlerisches Anliegen auf einer für das politische Plakat besonders eindrucksvollen Art und Weise und ermöglichten eine wirksame politische Propaganda.
Die künstlerische Laufbahn begann Biró in seiner Heimatstadt Budapest, wo er 1904 ein Studium an der dortigen Hochschule für angewandte Kunst aufnahm. Bereits in dieser Zeit wurde man auf seine vielseitige Begabung aufmerksam. So beschäftigte er sich gleichermaßen mit Malerei, Bildhauerei und war auf Gebieten angewandter Kunst tätig. Er entwarf Plaketten, Uhren, Plakate und beschäftigte sich auch mit Schriftgestaltung. Mehrere Studienaufenthalte führten ihn nach Berlin, Paris und London. Nach Budapest zurückgekehrt, wandte er sich fast ausschließlich der Gebrauchsgrafik zu und richtete sein Augenmerk hier speziell auf das Plakat. In dieser Zeit fielen seine Werbeplakate durch angenehme Farbigkeit und witzige Einfälle auf. Frühzeitig trat Biró auch mit politischen Plakaten an die Öffentlichkeit. Sein »roter Mann« (erste Entwürfe stammen aus dem Jahre 1909) wurde zum Zeichen der Sozialdemokratischen Partei Ungarns und tritt, variabel eingesetzt, zu den verschiedensten Themen als eine Art konstanter visueller Faktor in Birós Plakaten auf. Als Riese an physischer und moralischer Kraft überwindet er jedes Hindernis: er streicht das Parlament rot an, kehrt den politischen Gegner einfach hinaus, hebt Hausdächer an, um Licht in das Dunkel zu bringen. So wurde der »rote Mann« zum politischen Sinnbild der erwachenden Arbeiterklasse in Ungarn, zum figürlichen Aufschrei ihres Strebens nach revolutionärer Veränderung. Mit der Zuspitzung der sozialen Widersprüche in Ungarn und der Zunahme der internationalen Spannungen wurden Birós Plakate immer direkter und aggressiver, so deutlich, dass er sich sogar vor Gericht dafür verantworten musste. Diese Deutlichkeit entspringt zum einen seinen politischen Intentionen, zum anderen vor allem aber seinem Vermögen, komplizierte politische Vorgänge in ein symbolhaft gedrängtes, monumentales Bild zu formen, das den Betrachter geradezu in seinen Bann zwingt.
Rückschauend berichtete Biró: „Aus meiner eigenen Praxis, wie ein politisches Plakat entstehen soll, möchte ich mich auf ein kleines Beispiel unter vielen anderen, auf das speziell in der ganzen Fachwelt und Hunderttausenden Köpfen bekannte Plakat berufen, das sogenannte Kanonenfutter-Plakat, welches ich vor der ersten Mobilisation der Monarchie gegen Serbien gemacht habe. Dieses Plakat wurde um 7 Uhr abends bestellt, zweifarbig direkt auf den Stein gezeichnet, und um 8 Uhr früh war es schon überall plakatiert. Eine halbe Stunde später versuchte wild umherreitende Polizei mit scharfen Säbeln die Masse vor den Plakatsäulen auseinanderzutreiben. Die Polizei hat das Plakat überall mit Säbeln heruntergerissen, trotzdem wurde es von begeisterten Unbekannten immer wieder frisch aufgeklebt. Kurze Zeit darauf hat die Menge es auf Stangen befestigt und unter Begleitung von Tausenden und aber Tausenden in der Stadt herumgetragen, und um 12 Uhr mittags war schon Generalstreik.“ (Gebrauchsgraphik 1932/7)
Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges schloss die mehr und mehr unter austromarxistischen Einfluss geratene Sozialdemokratische Partei Ungarns unter Hinweis auf eine »nationale Interessengemeinschaft« einen »Burgfrieden« mit der ungarischen Regierung. Gleichzeitig war die Sozialdemokratische Partei Ungarns Birós Hauptauftraggeber, und so findet sich diese Haltung auch mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Plakaten wieder. Der Ausgang des ersten Weltkrieges brachte auch für Ungarn eine völlig veränderte politische Lage, und auch Biró besann sich auf seine eigentlichen politischen Ziele, welche er in seinen Plakaten wieder kraftvoll auszudrücken vermochte. Die entstandene nationale Krise wurde zu einer revolutionären Situation, die ihren Ausdruck in der Errichtung der Ungarischen Räterepublik am 21. März 1919 fand. Getragen wurde die »Ungarische Commune«, wie sie damals genannt wurde, von den Volksmassen unter Führung der 1918 gegründeten Kommunistischen Partei und der nunmehr mit ihr vereinigten Sozialdemokratischen Partei Ungarns.
Biró stellte sich neben anderen Künstlern voll in den Dienst der Räterepublik. Vom Direktorium für Kunst wurde er zum Kommissar für Plakatangelegenheiten ernannt. Unter seiner Leitung entstand der Straßenschmuck zur 1. Mai-Feier 1919 in Budapest. Zum zweiten Mal betritt der »rote Mann« die politische Plakatlandschaft. War er zuvor politisches Sinnbild des Willens zur Veränderung, so zeigte er sich nun als Verteidiger dieser Veränderungen erst ermöglichenden Räterepublik. Die Zeit der Ungarischen Räterepublik brachte revolutionäre politische Plakate in ungewöhnlicher Formenvielfalt, Eindringlichkeit, kraftvoller Farbigkeit, Menge und Qualität.
Die innere und äußere Konterrevolution bereitete der Räterepublik am 1. August 1919 ein blutiges Ende. Biró musste, wie viele andere Künstler auch, emigrieren. Seine erste Station war hierbei Österreich, wo er dann auch politische Plakate, vor allem für die Sozialdemokratische Partei Österreichs entwarf. In andere gesellschaftliche Verhältnisse gestellt, schienen die Plakate nun nicht mehr wie in früherem Maße die Kraft auszustrahlen, Emotionen freizusetzen und in aktives Handeln zu verwandeln.
Biró arbeitete bis 1929 in Österreich, vor allem in der Wirtschaftswerbung. Biró entwarf dann Anfang der 30er Jahre auch für deutsche Auftraggeber zumeist Kino-, vereinzelt auch politische Plakate. Seit 1933 hielt sich Biró dann in Frankreich auf. 1947 traf er wieder in Budapest ein. Zum letzten Mal fand sich gleichzeitig der »rote Mann« an den Plakatsäulen Ungarns, nunmehr als Symbol des demokratischen Neuaufbaus wieder. Am 6. Oktober 1948 starb Mihály Biró in Budapest.
Biró erkannte die Brisanz des Plakates als visuelles Kommunikationsmittel. Die optische Umsetzung seines politischen Verständnisses in Form des »roten Mannes« ist aus der politischen Plakatlandschaft zwischen den beiden Weltkriegen nicht wegzudenken. Viele Plakatgestalter ahmten sein treffendes Symbol nach oder ließen sich von ihm anregen. Die Wirkung des Biróschen Plakates ergibt sich oft aus der überraschenden Zusammenstellung von Bild- und Schriftteilen, deren Proportionen inhaltlichen Schwerpunkten nach gesetzt werden.
Als einer der wenigen formulierte Biró auch grundsätzliche Ansprüche an das politische Plakat und deren Gestalter. So schrieb er u.a.: „Meiner Meinung nach erfordert das Zeichnen von politischen Plakaten nicht nur technische Kunst und zeichnerische Fähigkeit, sondern der Künstler muß in enger Verbindung mit der Volksmasse sein, zu welcher er mit seinem Plakat sprechen will […] Diese auf die Masse wirkenden Plakate sollen Kunst fertigbringen, dabei müssen sie so einfach und deutlich wie möglich gezeichnet sein[…] Solch ein Plakat sollte der ganzen interessierten Bevölkerung die Augen aufreißen, sie zum Nachdenken zwingen und rasch auf ihre Sinne wirken.“ (Gebrauchsgraphik 1932/7)
Überarbeitete Fassung des 1986 erstmals erschienenen Artikels:
Grohnert, René: Mihály Birós schlagkräftige Plakate, in: Neue Werbung 1986/4, S. 38-41.