Otto Neurath: Soziale Daten sichtbar machen

Internationale Städtebauausstellung, Künstlerhaus, Wien, 1926 (Beide Abbildungen im Beitrag: Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum)

„Wie bereitet man empirische Daten so auf, dass sie sowohl einprägsam sind als auch zur Diskussion anregen? Wie können die sozialen und ökonomischen Grundlagen einer Demokratie so vermittelt werden, dass WählerInnen gleichermaßen informiert wie zur Mitgestaltung ihrer Zukunft angeregt werden?“ Mit diesen Fragen beginnt Gernot Waldner sein Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band „Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath“. Und Waldner ist damit auch gleich beim Thema: Denn für den 1882 in Wien geborenen und 1945 im englischen Exil verstorbenen Nationalökonomen, Philosophen und Volksbildner Otto Neurath waren einprägsame Antworten auf diese empirischen Fragen unabdingbar für einen demokratischen Diskurs. 1925 wurde unter Neuraths Leitung in Wien das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum gegründet, dessen Zielsetzung es war, so Gernot Waldner, „eine demokratische Öffentlichkeit über die Probleme der Zeit und die Veränderungen, die zu ihnen führten, zu informieren.“ Zum Sichtbar- und Verständlichmachen sozialer, ökonomischer, technologischer und historischer Daten und Fakten entwickelte Neurath gemeinsam mit dem Museumsteam die sogenannte „Wiener Methode der Bildstatistik“, die später in „Isotype“ (International System of Typographic Picture Education) umbenannt wurde.

 In dem Band „Die Konturen der Welt“ wird Otto Neuraths Bildungsarbeit, seine wissenschaftlichen Leistungen, die zeitgenössische Rezeption und die bis heute anhaltende internationale Wirkung in einer Reihe Einzelbeiträgen analysiert. Unter den mehr als zwanzig AutorInnen finden sich unter anderen HistorikerInnen, PhilosophInnen, SoziologInnen und KommunikationswissenschaftlerInnen. Thematischer Mittelpunkt ist dabei das Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und davon ausgehend die Prinzipien der Grafiken und die Fortführung der Bildstatistik bis zu aktuellen visuelle Kommunikations- und Informationsformen. Das Interview, das Konrad Holzer mit Herausgeber Gernot Waldner führte, beginnt daher mit dem Museum.

Waldner: Warum war dieses Museum so bedeutend? Wegen seiner programmatischen Pädagogik, seiner neuen Organisation und seiner Arbeitsweise. Erstens stellte dieses ‚Museum‘ die Gegenwart ins Zentrum seiner Ausstellungsarbeit. Den BesucherInnen sollten anhand ökonomischer und sozialer Entwicklungen die Probleme ihrer Zeit vor Augen geführt werden. Organisatorisch war es innovativer, als die meisten Museen heute, da es Ausstellungen laufend veränderte, um die BesucherInnen bestmöglich zu informieren. Ob eine Ausstellung verständlich war, wurde durch Besucherforschung erhoben, man passte Grafiken an, verbesserte die Vermittlung und bat WissenschaftlerInnen erneut um ihre Expertise. Drittens funktionierte dieses Feedback-Modell nur, da Grafik, Wissenschaft und Vermittlung auf Augenhöhe zusammenarbeiteten und so wechselseitig die Museumsarbeit zu verbessern versuchten.
Ich sollte erwähnen, dass das Museum mit anderen Materialen und Objekten arbeitete: interaktiven Modellen, physikalischen und chemischen Anordnungen, zahlreichen Karten etc. Leider ging nach 1934 einiges an Ausstellungsmaterial verloren. Das ist auch ein Grund, wenngleich ein wenig erfreulicher, warum die visuelle Bildung im Zentrum dieses Buch steht.

Holzer: Sie verwenden für das Buch den Untertitel „Geschichte und Gegenwart visueller Bildung“. Zur Geschichte: Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert stellte der französische Philosoph Marey fest, dass ein Hindernis gegenüber dem Fortgang der Wissenschaft die ungenügende Fähigkeit der Sprache sei, „die Wahrheiten, die wir erlangt haben, auszudrücken und zu vermitteln.“ Man bemühte sich also schon recht früh um Informationsvisualisierung. Wie war Neuraths Zugang zur Entwicklung visueller Bildungsvermittlung? Gibt es dazu Aufzeichnungen?

Waldner: Ich denke man kann hier zwei Ebenen unterscheiden: Neuraths eigene Beschäftigung mit Bildern und Visualisierungen einerseits und die kollektive Arbeit des von Neurath geleiteten, 1925 in Wien begründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums andererseits.
Neurath hat eine visuelle Autobiografie verfasst, sie heißt ‚From hieroglyphics to Isotype‘ und macht deutlich, welches Wissen seine Arbeiten bereichert hat. Englische Magazine in Wiener Kaffeehäusern, die er mit seinem Vater besuchte, eine Reihe von kunsthistorischen Publikationen, die erstmals Bilder weltweit untersuchten (China, Ägypten, Mittelamerika…), naturalistische Darstellungen aus Enzyklopädien und Lexika, militärische Karten, die Anfänge statistischer Visualisierungen aus England, Techniken wie der Scherenschnitt und andere. Man muss hier aber auch dazu sagen, dass Neurath selbst selten als Grafiker tätig war – sein Wissen floss indirekt in die Arbeiten ein. Insgesamt teilte Neurath den Befund von Marey, dass Wissen häufig in schriftlicher Form kommuniziert wird, obwohl andere Formen (Diagramme, Karten, Pläne, Modelle, Projektionen…) geeigneter wären. Er hat das unter anderem damit begründet, dass die staatliche Macht großteils schriftlich verfasst war und dieses (juristische) Modell die institutionalisierte Pädagogik unverhältnismäßig prägte.

Holzer: Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum?

Waldner: Die Arbeiten des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums selbst gehen über Neurath hinaus, sie zeichnen sich durch eine Kooperation von Wissenschaft, Grafik und Vermittlung aus. Über 30 Ausstellungen in 12 Ländern entstanden alleine während der Wiener Zeit des Museums (1925–1934). Während dieser neun Jahre wurde die Erarbeitung der Grafiken zusehends optimiert, weil ein eingespieltes Team aus WissenschaftlerInnen, GrafikerInnen und VermittlerInnen zunehmend effizienter und besser darin wurde, unterschiedliche Themen zu visualisieren. Hier entstanden die Arbeiten also im gleichberechtigten Kollektiv von ExpertInnen. Sobald eine Seite einen Einwand hatte, die Grafik also von BesucherInnen nicht verstanden wurde (Vermittlung) oder nicht adäquat war (Wissenschaft), wurden neue Versionen angefertigt (erneute ‚Transformation‘ von Daten durch GrafikerInnen). Neuraths Rolle war dabei in erster Linie jene des Organisators, seine spätere Frau, Marie Reidemeister, führte diese Arbeit nach Neuraths Tod 1945 fort, sie fertigte noch bis in die 1970er Jahre Isotype-Grafiken an (Entwicklungspolitik, Kinderbücher, Populärwissenschaft…). Für die Wiener Zeit kann es als Glücksfall gelten, dass Gerd Arntz, ein konstruktivistischer Künstler aus Köln, Otto Neurath und Marie Reidemeister zusammenarbeiteten – alle drei haben auch außerhalb des Museums bemerkenswert hochwertige Arbeiten produziert.

Holzer: Wie steht es denn in der Gegenwart um diese ‚visuelle Bildung‘. Die Autorin und Konzeptentwicklerin Sandra Rendgen meint, dass „nur wenige Gebiete intellektueller und ästhetischer Betätigung sich gegenwärtig in einem solchen Zustand vibrierender Gespanntheit befänden, wie die Informationsvisualisierung“. Stimmen Sie dem zu?

Waldner: Ich sehe in diesem Gebiet auch einige bemerkenswerte Entwicklungen. Das deutsche Magazin „Katapult“, die Website „Our World in Data“, aber auch die Arbeiten von Erwin K. Bauer für eine Kinderkrebsklinik, das Klimabuch von Esther Gonstalla oder die Bücher von Theo Deutinger sind neuere Projekte, die mich beeindruckt haben. Die Verbreitungsformen des Internets, der sozialen Medien, haben auch dazu beigetragen, dass dieser Bereich eine Konjunktur erlebt.

Holzer: Und wie weit ist da Neuraths Isotype noch aktuell?

Waldner: Trotz vieler grafischer Innovationen kann heute von Isotype immer noch einiges gelernt werden, denke ich. Gerade durch die Vielzahl von anderen Wissensgebieten, die bei der Konzeption dieser Grafiken eine Rolle spielten, könnte auch der aktuelle Umgang mit Grafiken verbessert werden. Erlauben Sie mir drei kurze Beispiele zu geben. In den Führungen des Museums war es das Ziel, eine Atmosphäre des ruhigen Nachdenkens zu erzeugen, sich für das Gespräch über Grafiken und das Entwickeln von Fragen gezielt Zeit zu nehmen. Ich denke, das ist sehr wichtig und ich kenne keine online-Formate, die ähnliche Gesprächsformate fördern, obwohl Museen, wie das für Kommunikation in Bern, wieder auf genau dieses Vermittlungsformat setzen, weil es sich als das effizienteste erwiesen hat.
Zweitens war es ein Leitmotivs Neuraths für diese Grafiken, dass Fakten alleine nicht zu politischen Entscheidungen führen. Die Fakten müssen aber die Grundlage solcher Entscheidungen sein. Stellen Sie sich eine Diskussion über den Klimawandel vor, die visualisierte Eckdaten zur Grundlage hat und darauf aufbauend politische Lösungen diskutiert, denn solche benötigen wir dringend. Wir sind weit von einer Diskussion dieser Form entfernt, man spricht von obskuren Dingen wie dem ‚Hausverstand‘. Drittens wären demokratische Gesellschaften zusehends gut beraten, ihre Wähler und Wählerinnen laufend zu bilden. Ich kenne zwar einige Ansätze dazu, aber ein nachhaltiges Museum, in dem über Jahre ein Team an der visuellen und pädagogischen Aufbereitung von wissenschaftlichen Themen arbeiten kann, fällt mir nicht ein.

Holzer: In einem Artikel über „Isotype“ fand ich das Wort „Assoziationsfähigkeit“ hervorgehoben. Ist das eine Fähigkeit – wenn ich nur mein Unvermögen beim Verstehen diverser Visualisierungen hernehme – die unter den Menschen nicht wirklich gleich verteilt ist?

Waldner: Ich würde die Bildungsarbeit der Wiener Methode der Bildstatistik/ Isotype als Umverteilung von Fähigkeiten verstehen. Ich weiß nicht, ob das Wort ‚Assoziationsfähigkeit‘ deutlich macht, worum es dabei im Bereich der Grafiken geht. Erlauben Sie mir ein kurzes Beispiel zu geben. Eine der bekanntesten Grafiken der Wiener Zeit von Neuraths Museum stellt die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen von 1913 bis 1931 dar. Die Grafik stellt vier Ländern einander gegenüber: die USA, Frankreich, England und das Deutsche Reich. Auf den ersten Blick fällt einem auf, dass die Anzahl der Arbeitslosen größer wird, unten, also 1931, sieht man mehr Figuren mit hängenden Schultern und beiden Händen in den Taschen also oben, also als 1913. Auf den zweiten Blick bemerkt man, dass sich die Entwicklung in den einzelnen Ländern voneinander unterscheidet. Vor allem in Frankreich ist die Zahl der Arbeitslosen überraschend niedrig, so niedrig, dass man sich fragt, wie sich die Weltwirtschaftskrise in Frankreich ausgewirkt hat. Worin unterscheidet sich die französische Volkswirtschaft zu dieser Zeit von den drei anderen? Jetzt müssen Sie sich vorstellen, dass diese Grafik nie alleine für sich zu sehen war. Sie war Teil einer Ausstellung, in der es unter anderem um den Aufbau von Volkswirtschaften ging, um unterschiedliche Warenflüsse, um verschiedene wirtschaftliche Abhängigkeiten zwischen Ländern und andere ökonomische Daten. Man sollte also ausgehend von dieser Grafik zu einer anderen spazieren und so, meistens im Rahmen einer Führung, einen empirischen Zusammenhang erkunden.
Ich denke dieses buchstäbliche Weitergehen, von einem empirischen Überblick zum nächsten, das dabei erfolgende Erkunden von Zusammenhängen, das ist mit der Fähigkeit zur Assoziation gemeint. Mit Assoziationen ist es – so die nicht unbegründete Programmatik der Wiener Methode/ Isotype – wie mit anderen Gedankengängen: sind sie einmal getan, wird es wahrscheinlicher, sie ein zweites Mal zu haben. Vielleicht ergeht es Ihnen auch so, wenn Sie sich das nächste Mal diese Grafik ansehen oder überlegen, wie sich der Begriff ‚Weltwirtschaftskrise‘ empirisch differenzieren lässt.

Holzer: Welche Rolle spielt das Österreichische Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum heute?

Waldner: Ich war nie Mitarbeiter der Österreichischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums, ich habe dort lediglich als Externer eine Ausstellung kuratiert. Insofern fällt es mir schwer, eine umfassende Einschätzung abzugeben. Natürlich habe ich durch die Führungen im Haus und die Zusammenarbeit dort mit Harald Lindenhofer, Gerhard Halusa, Andreas Lehner und Yvonne Heigl einige Eindrücke bekommen. Vor der Pandemie wurde das Museum täglich von einer großen Zahl von Schülern und Schülerinnen frequentiert, die von ökonomischer Bildung über die Geschichte des Kaffeehauses und des Wohnens bis hin zu Workshops über kritisches Konsumverhalten in diesem Haus einiges lernen können. (…)

Im Buch selbst kommen zwei Perspektiven auf das heutige Museum vor. Friedrich Stadler berichtet von seinen ersten Kontakten mit der Nachfolgeinstitution in den 1980er Jahren, Gerhard Halusa, der Archivar des Hauses, stellt auch einige Kontinuitäten zu Neuraths Museum vor. Ich habe das Buch selbst auch dem Museum gewidmet, um im Haus selbst ein besseres Verständnis für die vielfältigen Qualitäten der Vorläuferinstitution zu schaffen. Meiner Meinung nach wären hier alle am heutigen Museum beteiligten Seiten gefordert, die über Jahrzehnte vernachlässigten Innovationen und Leistungen des ursprünglichen Museums wieder zu beleben.

Gernot Waldner (Hg.) Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath. Mandelbaum Verlag www.mandelbaum.at , Wien 2021.

Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, Vogelsanggasse 36, 1050 Wien www.wirtschaftsmuseum.at