Hellmut Rademacher: „Ich habe das Plakat immer als Geschichtsquelle betrachtet!“

Hellmut Rademacher mit Gesprächspartner Bernhard Denscher (Foto: Barbara Denscher)

Der Berliner Historiker Hellmut Rademacher gilt als Ikone deutschsprachiger Plakatwissenschaft: Trotz widriger politischer Umstände in der damaligen DDR hat er ein Werk geschaffen, das für alle, die sich mit dem Thema „Plakat“ beschäftigen, zum Vorbild wurde: Dr. Hellmut Rademacher wurde am 2.6.1927 in Neuruppin in der Mark Brandenburg geboren, von 1946 bis 1951 studierte er an der Humboldt Universität in Berlin Geschichte und Germanistik. Nach eineinhalb Jahren als Lehrer an einer Oberschule trat er im September 1952 in das „Museum für Deutsche Geschichte“ ein, wo er über 40 Jahre lang die Plakatsammlung betreute. In dieser Zeit publizierte er wegweisende Arbeiten zur Geschichte des Mediums, unter anderem „Das deutsche Plakat“(1965), „Deutsche Plakatkunst und ihre Meister“(1965), „Theaterplakate“ (1989) und gemeinsam mit René Grohnert als Herausgeber „Kunst! Kommerz! Visionen!“ (1992). Rademacher war einer der wenigen Mitarbeiter, die nach dem Ende der DDR vom „Deutschen Historischen Museum“, der Nachfolgeinstitution des „Museums für Deutsche Geschichte“ übernommen wurden. Im Juni 1992 ging Rademacher in Pension. Bernhard Denscher hat Hellmut Rademacher im Februar 2011 in seinem Haus in Berlin besucht und folgendes Interview geführt.

AP: Als ich begann, mich Mitte der 1970er Jahre im Zuge meiner Diplomarbeit mit Plakaten zu beschäftigen, ging ich in die Wiener Universitätsbibliothek, um eine Bibliografie zusammenzustellen. Ich habe bald gesehen, dass es im deutschen Sprachraum damals nur einen gab, der sich mit dem Plakat als historischer Quelle beschäftigte – und das war Hellmut Rademacher. Sie waren aber auch international einer der ersten, der sich damit befasste. Daher meine Frage: wie sind Sie so früh dazu gekommen, dieses Thema wissenschaftlich zu bearbeiten?

Rademacher: Das ist eigentlich ein schöner Zufall gewesen, dass ich damit begonnen habe. Mir wurde als Mitarbeiter des damaligen „Museums für Deutsche Geschichte“ mitgeteilt, man hätte in einem Keller eines der Gebäude, die vom Museum übernommen worden waren, eine riesige Menge an Papierrollen gefunden. Es waren alte Plakate, und da das in weitestem Sinne in meinen Bereich gehörte – ich hatte eine archivarische Ausbildung – hieß es: „Na, machen Sie das mal!“
Und unser künstlerischer Leiter, ein früherer Grafiker, Peterpaul Weiss, sagte: „Gucken Sie sich das doch an, das ist doch hochinteressant!“ Und dann haben wir zwei, drei Rollen ausgepackt, und ich war sofort fasziniert. Weiss sagte: „Na Donnerwetter, da haben Sie etwas, da können Sie ein Buch drüber schreiben.“
Ich war ein junger Mensch, von der Universität gekommen, unzufrieden mit meiner Position, weil ich keine Chance hatte, innerhalb des Museums aufzusteigen, denn ich war nicht Parteigenosse. Und so habe ich mich darauf gestürzt und als Youngster einfach an den „Verlag der Kunst“ in Dresden geschrieben: „Ich habe hier eine solche Sammlung, und ich würde gerne darüber etwas publizieren“. Zu meiner großen Überraschung bekam ich die Antwort: „Ja, wir haben Interesse daran, bringen Sie uns doch einmal eine Konzeption.“ Das habe ich dann gemacht und nach einiger Zeit einen Vertrag bekommen. Ich habe ein Riesenmanuskript geschrieben, und eines Tages kam der Cheflektor Erhard Frommhold und sagte: „Herr Rademacher, alles sehr schön und wir sind auch geneigt, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, aber so geht das nicht, das ist ja viel zu umfangreich. Wir sind dann die ersten Seiten Wort für Wort durchgegangen, und da habe ich erst richtig gelernt, wie man so etwas macht. Und so ist das erste Buch entstanden: „Das deutsche Plakat. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“.
Wir haben einander dann stolz versichert, dass wir damit einen Markstein gesetzt hätten. Der Cheflektor war zwar in der Partei, aber er war einer, der die Grenzen des Erlaubten ein wenig ausdehnen wollte. Wir hatten Plakate des Expressionismus drin und das im Jahr 1965. Das hieß zwar nicht wie bei den Nazis „entartete Kunst“, aber es war doch „formalistisch“, und es galt als „dekadent westlich“. Und da haben wir also diese Plakate reingemacht und nicht viel später war ja Expressionismus in der DDR-Kunstwissenschaft dann auch genehm. Ich will nicht sagen, dass wir Avantgardisten gewesen seien und unser Buch gewissermaßen den entscheidenden Durchbruch gebracht hätte, aber wir haben uns auf jeden Fall darum bemüht, möglichst weitläufig zu sein. Ich hatte auch westdeutsche Plakate mit dabei, das war schon für damalige Verhältnisse ganz interessant, wo wir doch sonst immer nur auf die DDR bezogen waren. Und im Vorwort habe ich dann geschrieben: „So sei denn dieses Buch der Plakatkunst der Zukunft in einem auf demokratischer Grundlage vereinigten Deutschland gewidmet“. Na, das war ja nun ’ne Sache! Aber es hat keiner Anstoß genommen, wahrscheinlich weil es keiner von den Verantwortlichen wirklich gelesen hat. Aber für mich war das eine Herzenssache. Ich war also eigentlich immer ein Patriot (lacht herzlich).

AP: Sie haben gesagt, Sie hätten zunächst ein zu umfangreiches Mauskript verfasst. Doch zu der Zeit gab es ja wenig Sekundärliteratur, es gab nur aus der Anfangszeit des Plakates Bücher etwa von Zur Westen oder Sponsel. Nach ihnen hatte es kaum Darstellungen gegeben, die zu dem Phänomen Plakat auch qualifizierte Reflexionen geboten hätten.

Rademacher: Ja, es war damals schwierig. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht mehr genau, wie das zustande gekommen ist. Unter den begrenzten Verhältnissen und mit unseren damaligen Möglichkeiten war es nicht einmal leicht Bibliotheken zu benutzen. Ich bin also ständig hinterher gewesen und habe auch nicht viel gefunden und habe hier und da ein Bröckchen aufgesammelt. Aber wenn man richtig mit Liebe dabei ist, dann findet man Wege, die man hinterher vielleicht gar nicht mehr so richtig belegen und begründen kann, aber irgendwie findet man dafür Möglichkeiten – auch in Gesprächen mit anderen. Ja und dann hat mir dieses Buch – und das war ganz wichtig – den Weg zum Verband bildender Künstler erleichtert. Ich war also, wie gesagt, Mitarbeiter dieses Museums und der künstlerische Leiter, Peterpaul Weiss, war führendes Mitglied der Sektion Gebrauchsgrafik des Verbandes bildender Künstler. Und da schlug ich ihm Folgendes vor, denn ich hatte gelesen, dass es in der Schweiz die „Besten Plakate des Jahres“ gab und außerdem sammelte ich für das Museum Plakate und war immer bemüht, Quellen zu erschließen, wo man Plakate herbekommen konnte. Ich sagte: „Ich schlage vor, wir machen einen Plakatwettbewerb der besten Plakate der DDR, und jeder kann einsenden und der Macher, das sind wir im ‚Museum für Deutsche Geschichte’, und wir können dann die Plakate anschließend behalten“. „Ja“, sagte er, „das ist eine gute Idee, ich werde es mal meinen Verbandskollegen mitteilen.“ Die waren begeistert, vor allem darüber, dass das Museum für Deutsche Geschichte die materiellen Voraussetzungen dafür schaffen wollte. Da hieß es dann: „Wir machen das, aber unter einer Bedingung, dass der Hellmut Rademacher Mitglied der Jury wird.“ Weiss wollte mich damit verankern, damit wir auf jeden Fall die Hand darauf hatten. Das war ganz wichtig, um Beziehungen zu den damaligen Plakatgrößen der DDR zu gewinnen.
Weiss kannte noch aus der Weimarer Zeit viele wichtige Leute und konnte mir so die wichtigen Kontakte vermitteln. Leute wie Klaus Wittkugel und andere Größen, mit denen stand ich – wie man so sagt, nicht dass wir uns geduzt hätten, aber wir standen auf Du und Du im Sinne von enger Beziehung. Die Namen sind ja bekannt, Klaus Wittkugel, Werner Klemke, Paul Rosié, Hans Baltzer und so weiter. Und so hat sich dann die Sache entwickelt, und ich wuchs da immer mehr rein und war jedes – oder fast jedes – Jahr Mitglied dieser Jury. Dann haben wir Jahr für Jahr kleine Kataloge mit Abbildungen der besten Plakate herausgebracht, und da konnte man ja auch alles Mögliche publizieren. In einem dieser Hefte habe ich dann die Entstehung dieses Wettbewerbes geschildert, dass das also von uns vom Museum für Deutsche Geschichte ausgegangen ist.
Dann kam das Nächste, da kriegte ich den Antrag, ob ich nicht Vorlesungen halten wollte. Dann habe ich eben Vorlesungen zur Plakatkunstgeschichte an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee gehalten und dann in Halle an der Hochschule für Industrielle Formgestaltung, Burg Giebichenstein.

AP: Die Aktion „Die 100 besten Plakate“ ist immer noch erfolgreich und hat sich auch ausgedehnt und ist als Verein neu gegründet worden.

Rademacher: Ja, aber da muss ich sagen, ich habe da irgendwie den Faden verloren aus verschiedenen Gründen, da ich ja auch nach meiner Pensionierung den Kontakt zur Plakatsammlung unseres Museums verloren hatte. Ich war ja vielleicht ein bisschen empfindsam, aber man hatte mir da alles Mögliche ursprünglich versprochen und nichts gehalten. Dann hab ich mich also anderwärtig orientiert.
Ich bin von Haus aus nicht Kunsthistoriker, obwohl ich in Kunstgeschichte promoviert habe, mit einem Plakatthema übrigens, sondern ich wollte ja eigentlich Historiker werden und ich habe mich dann nach der Wende mehr für Geschichte und Politik interessiert. Jetzt gebe ich seit längerer Zeit ein Pfarrblatt heraus, in dem ich mich auch kulturhistorischen Themen widmen kann.

AP: Was hatten Sie ursprünglich studiert?

Rademacher: Geschichte und Germanistik.

AP: Worüber haben Sie dann dissertiert?

Rademacher: Über politische Plakate der Weimarer Zeit: „Künstlerische Ausdrucksmittel im politischen Plakatschaffen in Deutschland von der Novemberrevolution bis zur Errichtung der faschistischen Diktatur <1918-1933>: Ein Beitrag zur Ästhetik des politischen Plakates“. Die Arbeit ist nicht gedruckt worden, das war doch alles so schwierig damals. Wenn Sie etwas veröffentlichen wollten, dann hatten Sie endlose Zeiten bis Papier da war. Mein Betreuer vom Verlag hatte sich bei meinem ersten Plakatbuch mehrfach bei mir entschuldigt: „Ich weiß, wir haben Sie nicht gut behandelt, wir hätten längst eine zweite Auflage machen müssen, aber wir haben so wenig Papier und es gibt immer neue Dinge, die wir bringen müssen, um parteinahe Künstler zu publizieren“. Vor allem musste die aktuelle künstlerische systemkonforme Szene widergespiegelt werden, das war der Auftrag.
Plakatbücher zu veröffentlichen war damals schwierig, aber es ist auch jetzt schwierig. Man muss erst Kapital haben, um damit anzufangen. Ich wollte als Abschluss meiner Berufstätigkeit ein opulentes Werk schaffen, über die Kulturgeschichte des Plakats. Ich hatte schon eine Menge Material, mir schwebte das vor, was ich alles machen wollte, aber das war nicht drin. Na ja, das war dann auch eine Enttäuschung, die mich ein bisschen resignieren ließ.

AP: Aber auch diese Projektidee drückt aus, dass Sie als Historiker und Literaturwissenschaftler die Gesamtheit dieser Quelle Plakat von Anfang an beschrieben haben und nicht nur den ästhetisch formalen Aspekt.

Rademacher: Ja, das war mein Anliegen, ich habe das nie als rein ästhetische Kategorie gesehen, sondern für mich war das so: Plakate haben einen Zweck, sie haben einen konkreten Auftrag, der an sich mit Kunst überhaupt nichts zu tun hat, sondern sie sollen Stimmung machen für bestimmte Dinge, Waren absetzen, Kaufinteressen wecken, und da ist die Funktion der Kunst, dies zu erleichtern. Und da ich also Historiker bin, habe ich die Zeit einschätzen können. Und es war mir ja auch die Situation in Berlin mit den herrlichen Plakaten von „Hollerbaum und Schmidt“ und das ganze Umfeld klar. Dann habe ich auch in meinen späteren Arbeiten, die sich ja auch sehr viel mit DDR-Plakaten beschäftigten, natürlich diesen politischen Aspekt gesehen, wobei ich mich immer sehr vorsichtig ausdrücken musste: Das war also ein Tanz auf des Messers Schneide, man musste bestimmte Vokabeln verwenden und man musste auch aufpassen, dass man nicht zu weit ging. Und ich muss dazu sagen, ich habe ja noch an einem großen, 1975 erschienenen Buch entscheidend mitgewirkt, nämlich über die Gebrauchsgrafik der DDR. Ich habe den theoretischen Teil geschrieben, und das sind so über 25 Druckseiten. Also über Grundsätze der ästhetischen Probleme der Gebrauchsgrafik der DDR und deren einzelnen Bereiche, also auch Schutzmarken und Plakate und was es da so alles gibt. Ich habe versucht, das unter dem Gesichtspunkt der, na ja, der sozialistischen Gesellschaft darzustellen, und da habe ich mich eine Zeit lang ein bisschen geschämt dafür, dass ich dieses Buch einmal gemacht habe. Aber ich hatte mich ja eigentlich im Rahmen des damals Möglichen gehalten, dass man, wenn man halt diese Zusatzvokabeln und diese Zitate versteht, wo ich mal den Marx zitiert habe und dann den Alpatov und andere sowjetische Ästhetiker, aber dass ich mich eigentlich nicht zu schämen brauche, denn ich habe das Menschenmögliche getan, der ganzen Sache einen gewissen Sinn, eine gewisse inhaltliche und formale Glätte zu geben, dass man das also durchaus, wenn man diese Vorbehalte kennt, lesen kann.
Das war also durchaus der Spaß, der Spaß an den verschiedenen Publikationen – ich habe über 400 Aufsätze in der „Bildenden Kunst“, in der „Neuen Werbung“ und in anderen Zeitschriften veröffentlicht -, dass man die Kräfte anstrengen musste, alles so zu formulieren, dass man nicht Anstoß erregt, aber dass man trotzdem in etwa das formulierte, was man wirklich sagen wollte. Günther de Bruyn hat in der DDR ein Buch über Jean Paul geschrieben und da schreibt er, dass die Zensur eigentlich die Autoren in ihrem Geistesschaffen beflügelt hat, sich auszudrücken ohne von der Zensur gekidnappt zu werden und so war das auch mit solchen Dingen, die ich damals machen musste, das hat auch Spaß gemacht.

AP: Ich möchte Sie noch einmal zur Ihrer Methode fragen, weil Sie ja keine Vorbilder haben konnten. Es war so, dass das Plakat als Thema damals unbearbeitet war. Die Geschichtswissenschaft hat das Plakat lange Zeit nur als Illustration verwendet, nach dem Motto mancher Museen: wenn ein bisschen Platz in einer Ausstellung ist, klebt man ein Plakat als Lückenbüßer hin. Auch die Kunstgeschichte war meistens dafür zu abgehoben, das Thema war für sie offensichtlich zu wenig relevant. Die Bildwissenschaft war ebenfalls noch nicht entwickelt, auch die Semiotik, das ist alles später aufgekommen, und auch die Publizistik hat sich in erster Linie mit den Texten von Zeitungen und Zeitschriften beschäftigt und nicht mit dem Bild. Wie haben Sie eigentlich Ihre Methodik erarbeitet?

Rademacher: Ich habe das Plakat immer als Geschichtsquelle betrachtet und ich habe – Sie sprechen ja zum Beispiel von der Bildkunde – ich habe auch darüber einiges veröffentlicht, also das liegt alles dicht beieinander. Für mich war das Plakat insofern eine besondere Geschichtsquelle, weil kein anderes gedrucktes Medium so sehr wie das Plakat gewissermaßen der unmittelbare aktuelle Ausdruck der Stimmung der Zeit war. Das heißt also, ein Witz, der populär war, den konnten Sie ins Plakat reinmachen, aber vier Wochen später schon nicht mehr. Ein Plakat ist ein Kunstwerk an einer Säule und hat im Sinne von seine Bedeutung für 24 Stunden (Otto Arpke), und in dieser Zeit muss es wie ein zündender Blitz wirken. Ich habe auch die Formulierung gebraucht, das Plakat muss das Gewand des Tages tragen. Die Stimmung, die psychologische Situation, auch Redensarten dieser Zeit. Das dürfen wir nicht vergessen, Plakat sind nicht nur Bilder, denn die sprachliche Formulierung ist nicht weniger schöpferisch, wenn es sich um einen richtigen Slogan handelt, als die Bildfunktion. So habe ich stets versucht, dem Plakat eine historische Aussagefähigkeit abzuluchsen.

AP: Kann es sein, dass es in der DDR vielleicht ideologisch ein bisschen leichter war, da man hier eine Geschichte des Volkes, eine Geschichte der werktätigen Massen, also auch der Massenkultur schreiben wollte, während man im Westen doch lange Zeit eine Herrscher-Geschichtsschreibung verfasst hat.

Rademacher: Na ja, das weiß ich nicht, ob man das so sagen kann. Aber das stimmt schon: In der DDR gab es natürlich dieses Moment der Integration der Politik in alle Bereich des Lebens und eine rein ästhetische Arbeit, wie man sie vielleicht im Westen zu der Zeit hätte machen können, das wäre bei uns nicht möglich gewesen. Da wurde – tatsächlich historischer Materialismus – da wurde also immer verlangt, die Zusammenführung dieser Stränge, und das entscheidende Moment waren natürlich die sozialen Verhältnisse und die antagonistischen Klassengegensätze in der Gesellschaft. Das musste alles betont werden, und insofern waren wir auch belehrt, diesen Aspekt zu sehen. Das hat es bestimmt erleichtert, das ist richtig, das muss ich zugeben. Es ist auch richtig, das muss ich auch heute vertreten, dass dieses reine Ästhetisieren damals bei uns nicht üblich war und man hätte damit auch keinen Blumentopf gewinnen können.

AP: Wie wir wissen sind gerade in den 1960er Jahren im Westen die marxistischen Ansätze in den Geisteswissenschaften sehr populär geworden. Ist Ihnen das in der DDR damals bewusst gewesen?

Rademacher: Ja, das schon, es hat mich auch geärgert. Immer wenn Linke aus dem Westen kamen, war es für mich, der ich in einer sich sozialistisch gebärdenden Gesellschaft lebte, die ich aber ablehnte, fatal, sozialistisch auftreten zu müssen. Ich weiß noch, wie ich einmal in einer Buchhandlung war, da waren Studenten von der „Freien Universität Berlin“ und die kauften nun stapelweise marxistische Literatur, und da sagte ich – denn die mussten die, da sie aus dem Westen kamen, auch noch in West bezahlen – und da habe ich gesagt: „Sagen Sie mal, müssen Sie denn Ihr gutes Geld für dieses Zeug ausgeben?“ Na ja, die guckten mich groß an und haben nichts weiter gesagt und haben mich nicht verraten, und der Buchhändler hat mich auch nicht verraten, es war ja natürlich im Grunde genommen der damalige Strafbestand einer „Boykotthetze“.

AP: Ihre Werke sind auch ins Englische übersetzt und so international rezipiert worden.

Rademacher: Ja, ich hatte beim Editions-Verlag in Leipzig Bücher, das über die deutschen Plakatmeister und dann noch eines über Theaterplakate, und die wurden fast ausschließlich für den westlichen Markt gedruckt, und die DDR hat damit Devisen verdient. Als Autor hatte man davon eigentlich nichts, ich habe nie einen Pfennig Westwährung dafür bekommen. Das einzige, was mir für das Buch über die Theaterplakate gewährt wurde war, dass ich ein paar Mal in die Kunstbibliothek nach Westberlin fahren konnte. Vor der Mauer, also vor 1961, da liegen die Grundlagen meiner Studien, da hatte ich nach Feierabend in die Kunstbibliothek fahren können. Die hatte bis 9 Uhr offen, da kam ich dann um halb 11 Uhr zu Hause an, voller Notizen unter total ermüdet – aber das war damals schön. Und es war dann eine furchtbare Schranke, die dann 1961 über uns hereinbrach, und darum war das schon ein Privileg für mich als nicht der Partei Angehörigen und für einen, der „nicht dazu gehört“, dass ich dann ein paar mal durch Vermittlung des Verlages Edition – aber nur dadurch – nach Westberlin fahren konnte, um wieder an die Kunstbibliothek zu gehen und mich mit anderen unterhalten zu können.

AP: Das Buch über die Theaterplakate zeigt, dass Sie sich sehr intensiv auch mit der internationalen Szene beschäftigt haben und sich da hervorragend auskennen. In Ihren frühen Büchern über die Plakatkunst kommen immer wieder auch österreichische Grafiker vor. Darf ich Sie um Ihre Einschätzung der diesbezüglichen österreichischen Szene bitten?

Rademacher: Also wenn man von dem frühen Berliner Plakat begeistert ist, muss man ehrlicherweise zugeben, dass einige der Hauptmatadore eigentlich Österreicher waren: Julius Klinger, Ernst Deutsch (Dryden) und Jo Steiner. Was ich an diesen Plakaten so schätze, ist diese heitere Beschwingtheit, dieser elegante Witz. Na ja, der Schriftsteller Egon Friedell kommt ja auch aus dem alten Österreich, der ist ja der Top-Mann meiner Begeisterung. Übrigens hat ja Steiner dieses bekannte Porträtplakat von Friedell für das Linden Cabaret gemacht und dem Friedell hat das Blatt so gefallen, dass er auf eigene Kosten 1000 Stück nachdrucken ließ.

AP: Das Deutsche Historische Museum besitzt einen großen Teil der Sammlung des großen Plakatexperten Hans Sachs, die ihm in Zusammenhang mit seiner Flucht vor dem Nationalsozialismus geraubt wurde. Nach 1945 hatte die BRD für den Verlust der Sammlung an Sachs eine Entschädigung bezahlt. Sein Sohn Peter hat mittlerweile die Rückgabe der Sammlung an ihn gefordert. Ein Gerichtsverfahren dazu ist derzeit noch nicht endgültig entschieden.

Rademacher: Ich bekam eines Tages einen Brief von Hans Sachs. Ich muss erst vorweg sagen, dass ich wusste, dass es sich beim Hauptbestand des Museums um die Sammlung Sachs handelt. Mir war aber verboten, als ich dieses Buch schrieb, die Sammlung Sachs zu erwähnen: Die DDR war in dieser Hinsicht sehr „großzügig“, sie haben zwar die Sache kassiert, hatten aber nicht die Bereitschaft, irgendwelche Entschädigungen zu zahlen. Die Entschädigung, die Sachs auf Grund eines Gutachtens von Professor Hölscher, dem Herausgeber der in München erscheinenden „Gebrauchsgraphik“, bekommen hat, für den Verlust seiner Sammlung, hat die Bundesrepublik damals bezahlt. Und ich musste also den Namen Sachs verschweigen. Dann – 1966 muss das gewesen sein – erhielt ich einen Brief von Hans Sachs, er war in Bad Nauheim zur Kur, und schrieb, zu seiner großen Freude hat er durch Freunde erfahren, dass die Sammlung wenigstens zu Teilen existiert und dass ich, er kannte meinen Namen, derjenige wäre, der das verwaltet und er würde sich sehr freuen, wenn ich doch mal mit ihm darüber reden könnte und ob ich nicht Lust hätte, auf seine Kosten auf ein zwei Tage nach Bad Nauheim zu kommen, denn wir hätten viel zu reden. Ich habe das dann unserer Chefdirektion vorgelegt. Natürlich kam das gar nicht in Betracht, dass ich dort hinfahre, und es war denen auch peinlich, dass es überhaupt eine Beziehung gab. Die wollten das ganz tief halten. Na, dann haben wir korrespondiert und mit großer Freude habe ich ihm dann eines der Bücher, in dem der größte Teil der Abbildungen aus der ehemaligen Sammlung Sachs stammte, geschickt und ihm geschrieben, dass wir das verwalten und uns im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten bemühen, den Erhaltungszustand zu gewährleisten. Denn viele der Plakate waren sehr beschädigt, durch Wassereinbruch und Brandspuren, wer weiß wo die überall gelagert wurden und nicht behandelt worden sind.
Dann haben wir noch zwei oder dreimal korrespondiert und dann kriegte ich einen furchtbaren Brandbrief von ihm, in dem er mich wütend beschimpfte, ich hätte ihm seine Lebensleistung gestohlen. Erst hat er mich gelobt, das wäre toll, dass sich ein junger Mensch so hätte reindenken können und ich hätte auch alles sehr schön dargestellt und auch die Zusammenhänge zwischen den Künstlern und den Auftraggebern und all diese Geschichten. Und dann kriegte ich also diesen wüsten Brief und wurde furchtbar beschimpft mit einer Reihe von Stimmen, Zitaten von Freunden von ihm, die sagten, wie kann man mit einem Kerl wir mit mir Kontakt haben, und er bricht den Verkehr mit mir ab und er will auch nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich habe dann noch einmal versucht, in einem längeren Schreiben ihm dazulegen, dass es nicht böser Wille war, ihn nicht getroffen zu haben. Und ich habe dann auch ein bisschen darum herum reden müssen, denn ich konnte ja nicht mal schreiben „ich durfte nicht zu Ihnen kommen“, denn man wusste ja nie, wer es noch gelesen hat. Und dann war es aus. Später erfuhr ich dann durch Korrespondenz mit einem anderen, dass er gesagt hat: „Na ja, ich hab wohl den Herrn Rademacher zu Unrecht kritisiert, der konnte wohl nicht anders, ich habe ihn eigentlich zu schlecht behandelt, ich hätte ihm diesen Brief nicht schreiben dürfen.“ Aber leider hat er mit nie einen Brief geschrieben, wo er gesagt hätte, hören Sie mal zu, nehmen Sie es nicht so böse, die Umstände haben mich dazu gebracht. Damit war das Thema Sachs zu Ende.

AP: Sie haben Ihn nie persönlich getroffen?

Rademacher: Nein, ich durfte ja nicht. Leider, da ich im Besitz der Zeitschrift „Das Plakat“ war, war mir ja diese ganz Geschichte und sein bedeutender Aktionsbereich bekannt. Sachs war ja noch aktiver als René Grohnert, wenn das möglich ist, oder zumindest nicht weniger. Es war mir ja alles klar, auch die tragischen Umstände, und ich verstand natürlich auch die Verbitterung von Hans Sachs.


DAS GESPRÄCH FÜHRTE BERNHARD DENSCHER AM 3.2.2011 IN BERLIN.