Vor fünfzig Jahren hat’s begonnen

Bilder schauen. Immer ist davon die Rede, dass wir von einer Bilderflut überwältigt werden. Stimmt aber nicht. Nämlich das Überwältigen. Bilder, die wir – also meine Generation – vor fünfzig Jahren gesehen haben, vor einer ziemlich langen Zeit also, sind im Augenblick, in dem wir sie wiedersehen, ganz und gar präsent. So wie wir ja auch die Lieder aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch immer auswendig können. Und haargenau wissen, wie Pitralon roch. Und uns sofort an das Plakat erinnern, das dafür geworben hat. Von den Plakaten der 60er Jahre ist also die Rede. Von dem Buch, das Julia König-Rainer als aufwendiges Begleitmedium für Ausstellungen von Plakaten aus der Sammlung der Wienbibliothek herausgegeben hat.

Über dreihundert Plakate wurden als repräsentativer Querschnitt durch das einschlägige Schaffen der Zeit ausgewählt, die den Geist dieser sechziger Jahre in Wien sichtbar machen. So ein Buch lebt natürlich von den Bildern, auch wenn es nicht nur ein Bilderbuch ist. Die Beiträge helfen einem, sich auch intellektuell in die Zeit zurückzubegeben, in der an den Plakatwänden für Smart-Export, Käse aus Österreich und Vesta, das „wichtigste Kleidungsstück der Frau“, geworben wurde. Ein „Stimmungsbild der Zeit wird gezeichnet.“

Es war eine „Zeit des Übergangs“, betitelt die Herausgeberin einen ihrer Beiträge. Es war „das Ende des goldenen Zeitalters der Agenturlosigkeit“, der einsame Plakatkünstler hatte sich zu verabschieden, Werbeagenturen übernahmen mehr oder weniger brachial seine Tätigkeit. Christian Maryška, Fachmann auf dem Gebiet des historischen Grafikdesigns, macht in seinem Aufsatz darauf aufmerksam, dass sich „inhaltlich das Fotoplakat gegenüber dem gezeichneten Sujet durchgesetzt hat.“ Damit hat’s also vor fünfzig Jahren begonnen. Fährt man heute durch die Straßen, so sieht man an den Plakatwänden Fotos, Fotos und noch einmal Fotos. Fotos, die einen anspringen. Und wenn man einmal kein Foto sieht, sondern eine rote, runde Kugel mit zwei Augen und einem Hütchen oben drauf, dann wünscht man sich doch wieder ein Foto. Und denkt an den Satz, mit dem ein Grafiker damals gegen ein Milch-Werbeplakat polemisiert hat: „Die allgemeine Ablehnung dieses Machwerkes richtet sich sowohl gegen die äußere Form, welche krassesten Dilettantismus verrät, als auch besonders gegen den gedanklichen Inhalt“. Doch zurück aus dem Heute in ein Damals, das wenigstens auf diesem Gebiet, dem der Plakatkunst, ein besseres war. Maryška zeigt auf, worauf zu achten ist, woher die Vorbilder für die österreichische Plakatkunst kamen, wie schön Plakate sein können, die rein typografisch ausgerichtet sind – oder wollte der Schreiber dieser Zeilen das aus seinem Beitrag herauslesen? Der Kulturhistoriker gibt auch Beispiele von verschiedenen Bildinszenierungen, weist den laienhaften Betrachter darauf hin, was zu beobachten ist.

Eine kleine Sensation hat Bernhard Denscher zu bieten. Er machte Otto Stefferl ausfindig, den Mann, der als erster in Österreich moderne, an der Wirtschaft orientierte Werbung auch in der Politik, also auf Wahlplakaten, einsetzte. Dass es gerade die ÖVP war, die damalige ÖVP noch dazu, die es wagte, sich auf dieses Terrain zu begeben, erstaunt noch immer. Das „Klerikalenschwarz“ verwandelte Stefferl in Grün, „die Farbe der Landwirtschaft, der Natur, des gesunden Lebens.“ Natürlich gab’s die Grünen damals noch nicht. Auch hier wird man darauf hingewiesen, worauf man denn bei den Plakaten zu achten habe, wie Grafiker damals arbeiteten und es höchstwahrscheinlich auch heute noch tun. „Mit der ganzen Macht des lichtstarken ‚Neonfaschismus‘ wird eine Reizüberflutung auf den Konsumenten losgelassen. Die modernen Werbefachleute wissen, dass der Konsument in vielen Fällen gar nicht weiß, was er wirklich will, und daher fassen sie es als ihre Aufgabe auf, ihm das einzureden“, warnte damals Unterrichtsminister Heinrich Drimmel. Heute weiß das wahrscheinlich jeder und denkt nur mehr anfallsweise – siehe obige rote Kugeln – darüber nach. In diesen 60er Jahren wurde aber auch das Fernsehen schön langsam zu dem, was es heute ist und so verlagerten sich die Wahlkämpfe dorthin, sodass das Plakat „ein in seiner Bedeutung eingeschränktes Beeinflussungsinstrument wurde.“

Julia König-Rainer bleibt auch in ihrem zweiten Beitrag, in dem sie sich mit der Frau als Zielpunkt der Werbung befasst, bei ihrem Diktum von der Zeit des Übergangs. Und sie kann das mit vielen Plakaten belegen. Sind es am Anfang der 60er Frauen, die der um sie drapierten Familie (ein Mann und zwei Kinder) unbeschwerte Freude beim Essen bieten, so führt für sie der Weg über BH und Badeanzug vom richtigen Drunter auch zum sportlichen Drüber, und das ist die Hose.

Thomas Mießgang, zuletzt leitender Kurator der Kunsthalle, ruft all das wieder hervor, was man längst vergessen zu haben glaubte – oder sowieso nicht gewusst hat: nämlich wie Wien damals war. „Lieber ins Kaffeehaus gehen als auf die Straße, lieber den besseren Schmäh haben, als den härteren Faustschlag“. Liest man seinen Aufsatz über die 60er als „österreichische Nachkriegszeitfalte“, dann wird man auch wieder mit der Diktion der Intellektuellen von damals konfrontiert. Mießgang fällt bewusst oder unbewusst in das Vokabular, das halt damals in diesen Kreisen üblich war. Wenn man’s merkt, erheitert es einen.

Letztlich stellt sich aber dann doch die Frage, welches Gefühl sich beim einzelnen Betrachter einstellt, wenn er die Bilder aus der „Galerie der Straße“ von damals sieht. Zur Erinnerung, die dadurch wachgerufen wird, kommt kein nostalgisches Wohlfühlen. Man weiß nicht recht, ob man sich in dem allen noch wiedererkennen will und kann. Die damals doch vehement aufkommende Lebensfreude ist auf der Strecke geblieben. Oder?

König-Rainer, Julia (Hrsg.): 60er Plakate aus der Sammlung der Wienbibliothek, Wien 2011 (= Mattl-Wurm, Sylvia [Hrsg.]: Plakate aus der Sammlung der Wienbibliothek, 3. Bd).

Weitere Hinweise:
Plakatausstellung: Ein Zeitsprung zurück in die Sechzigerjahre – DiePresse.com