Eine Mikrogeschichte Wiener Plakate um 1935

Film-Stills aus „Silhouetten“ (Filmarchiv Austria)

Kürzlich zeigte das Österreichische Filmarchiv als Stream den Film „Silhouetten“ aus dem Jahre 1936. Ein Spielfilm von Walter Reisch, in dem es um eine Balletttruppe geht. Er hatte am 9. Oktober 1936 im Apollo-Kino Premiere und wurde wegen des jüdischen Regisseurs in Hitlers Deutschem Reich nach dem Juliabkommen 1936, das auch den Kulturbereich umfasste, nicht gezeigt.

Gleich zu Beginn des Films sieht man die Ankunft eines Zuges. Er fährt im damals bereits seit längerem leer stehende Nordwestbahnhof ein, vorbei an der seitlichen Begrenzungsmauer der Bahnhofshalle.[1] Dort erblickt man in regelmäßigen Abständen affichierte großformatige Plakate. Man muss davon ausgehen, dass diese nicht extra für den Filme plakatiert wurden, sondern ganz regulär von der Österreichischen Verkehrswerbung, die die Plakatierung in den Bahnhöfen der Österreichischen Bundesbahnen über hatte, angebracht wurden.

Als erstes Plakat erblickt man ein Plakatsujet der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung für den Winter 1935/36. Im Austrofaschismus bediente sich die staatliche Tourismuswerbung verstärkt „trachtiger“ Motive, noch bevor die Nationalsozialisten das Thema Trachten instrumentalisierten. Der Grafiker Bela F. Faludy zeigt vor verschneiter Winterlandschaft einen rotwangigen Buben in Trachtenanzug und in eher karikierender Weise, der sichtlich Mühe hat, die Skier zu transportieren. Direkt daneben hängt das offizielle Wiener Werbeplakat für die Faschingsveranstaltungen der Stadt Wien. Das Plakat wurde von Joseph Binder entworfen, möglicherweise auch bereits von einem Mitarbeiter im Atelier Binder, da sich Binder damals bereits in Amerika aufhielt. Vor zwei dominanten Säulen sieht man illustre Gäste in bunten Ballroben und in gleißendem Licht.

Eine Art Spin-Off zum Sindelar-Plakat stellt die rechts abgebildete Ansichtskarte dar: „Ein ‚Geschenk der Miag‘ für die Freunde und Verehrer Sindelars: Um den zahlreich geäußerten Wünschen zu entsprechenden, verteilt die Miag von dem bereits allgemein bekannten ‚Fru-Fru‘-Plakat kleine Postkarten mit eigenhändiger Unterschrift Sindelars gratis bei allen Verkaufstellen für ‚Miag-Fru-Fru‘“ (Die Stunde, 29.5.1934, S.4)

Zwei Sekunden später sieht man kurz zwei weitere Plakate, diesmal ist es Produktreklame. Einmal ein großformatiges Kunerol-Plakat, das auch für Litfaßsäulen geeignet war. Kunerol war ein Kokosnussfett, das damals weit verbreitet und das beliebteste Bratfett für die Wiener Küche war. Wer für das Grafikdesign verantwortlich war, ist nicht bekannt. Das Plakat daneben zeigt ein sehr frühes Beispiel einer Werbekampagne mit einem sehr bekannten Testimonial, das das Produkt bewirbt. Dabei handelt es sich um Matthias Sindelar, den damals wohl berühmtesten Wiener Fußballspieler, der Teil des Österreichischen Wunderteams zwischen 1931 und 1933 war. Und in genau diesem klassischen schwarz-weißen Dress der Nationalmannschaft, deren Farben vor einigen Jahren vom ÖFB entsorgt wurden, ist der Spieler zu sehen, wie er etwas aus einem Glas löffelt, sein rechtes Bein, dessen Knie wegen einer langwierigen Verletzung bei den Spielen immer bandagiert war, lässig auf einen Lederball gestützt. Er warb für ein Produkt, das in den 1920er-Jahren eingeführt wurde und bis heute existiert, nämlich für die Sauermilch-Fruchtmischung „Fru-Fru“ mit den Worten „Es schmeckt dem Sindelar das MIAG Fru-Fru“. Der Auftraggeber, die Milchindustrie-Aktiengesellschaft, engagierte für dieses Plakat das vielbeschäftigte Atelier Otto, das in jenen Jahren mit seinen Arbeiten im öffentlichen Raum omnipräsent war. Ob Sindelar aufgrund dieses „Nahrungsergänzungsmittels“ mit der Wiener Austria im September 1936 – also genau in den Tagen der Wiener Uraufführung von „Silhouetten“ – zum zweiten Mal den begehrten Mitropacup, den Vorgänger-Wettbewerb der Champions League, gegen Sparta Prag gewann, sei dahingestellt.

„Matthias Sindelar, was tust du mir an! Saure Milch, Topfen, Buttermilch, Rahm, das alles habe ich nie leiden können! Nun erscheinen auf einmal riesige Plakate an den Wänden: der Sindelar sitzt in der Nationaldress auf einem Geländer, in schwarzer Hose und weißem Leiberl, die blonden Haare fein glatt zurückgekämmt, an den Füßen die Fußballpackln mit den Stoppeln, ein funkelnagelneuer Matchball daneben. Oben steht groß: Matthias Sindelar ißt Miag-Fru-Fru. Und tatsächlich, mein Idealfußballer hält in der Hand ein weißes Flascherl und löffelt, so scheint es, mit Genuß den Inhalt heraus. (…) Wenn du ein Klassefußballer werden willst wie der Sindelar, mußt du saure Milch trinken, pflanzt mich der Vati. Auch der Herr Ramberger ist dieser Meinung: ohne Fru-Fru kein Mittelstürmer.“
Der 1926 geborene Wiener Schauspieler und Theaterleiter Herbert Lederer in seinem Buch „Kindheit in Favoriten“ (1975, S. 106)

Wiederum zwei Sekunden später erkennt man auf der Leinwand neben einer Telefonzelle der Österreichischen Post- und Telegraphenverwaltung zwei Plakate aus dem Kulturbereich. Das erste ist ein Filmplakat, das so unfreiwillig (?) in einem Film für einen anderen wirbt. Bemerkenswerterweise handelt es sich dabei um einen weiteren Spielfilm von Walter Reisch, der in Wien im September 1935 Premiere hatte. Dabei spielte der damalige Josefstadt-Star Paula Wessely als arme Kunstgewerbeschülerin die Hauptrolle. Das Plakat wirbt mit einem riesigen Portrait der Hauptdarstellerin, die malend in einem weißen Kittel vor einer Staffelei sitzt. Das Litfaßsäulen-Plakat mit einer Höhe von 280 cm wurde von Karl Dopler entworfen. Rechts daneben sieht man ein Textplakat, das für den 2. Wiener Opernball am 25. Jänner 1936 wirbt, der im Jahr zuvor vom austrofaschistischen Regime erfunden wurde, nicht zuletzt, um den durch die Tausend-Mark-Sperre Hitlers daniederliegenden Tourismus etwas anzukurbeln. Ein Musterbeispiel einer „erfundenen Tradition“, wie es der britisch-österreichische Historiker Eric Hobsbawm beschrieben hat. Dieses Plakat wurde in sehr konservativer Ausführung, aber nicht zeituntypisch, ebenfalls vom berühmten Atelier Joseph Binder kreiert. Die Veranstaltung stand unter dem Ehrenschutz der Bundesregierung und die Einnahmen kamen der Winterhilfe zugute, eine der vielen Maßnahmen, die sich die Regierung des Ständestaates vom Dritten Reich abschaute.

Danach folgen wieder zwei Plakate mit Produktreklame für Getränke. Das eine wirbt für Kattus-Weine. Für den ehemaligen k. u. k. Hoflieferanten, dessen Weine in Wien sehr beliebt waren, warb Hans Neumann, der im Zentrum der Donaumetropole, am Stock-im-Eisen-Platz, ein gutgehendes Werbeatelier betrieb. Das zweite ist das wohl bis heute berühmteste Wiener Plakatsujet der Zwischenkriegszeit, das zu diesem Zeitpunkt bereits 12 Jahre alt war. Wieder ist Joseph Binder dafür verantwortlich. Im Jahre 1924 entwarf er den legendären, schmallippigen und spitznasigen Araber mit Fez, der sich am Geruch einer Tasse Meinl Kaffee ergötzt. Genauso hat ihn Joseph Binder beschrieben, wie man auch nachlesen kann, und niemals als einen Schwarzafrikaner. Irgendwann begann das Kolonialwaren-Unternehmen allerdings selbst die Geschichte vom Meinl-Mohren zu erzählen und das Ursprungsmotiv durch andere Grafiker zu überformen. Noch heute findet man diese falsche Darstellung regelmäßig in den Medien.

Kurz nachdem der Zug zu stehen kam, erblickt man eine weitere Arbeit aus dem Atelier von Joseph Binder. Das offizielle Plakat des Werbedienstes des Bundesministeriums für Handel und Verkehr für die Wintersaison 1934/35. Im Gegensatz zu den anderen Plakaten scheint es sich hier um eine eher informelle Affichierung zu handeln. Das Plakat ist einfach auf eine weiße Wand geklebt. Zu sehen ist ein Skiläufer in Siegerpose, gekleidet in der Ausrüstung der damaligen Ski-Nationalmannschaft mit rotem Pullover und schwarzer Norweger-Skihose.

Aus der Auswahl der Plakate ergibt sich ein schlüssiger Hinweis, wann diese Szene gedreht wurde. Es muss um die Jahreswende 1935/1936 gewesen sein. Diese wenigen Sekunden Film erzählen eine repräsentative Geschichte der österreichischen Plakatkunst aus der Mitte der 1930er-Jahre.

[1] Vgl. Die Stunde, 15. 12. 1935, S. 8. Vielen Dank an Bernhard Hachleitner für die Identifizierung des Drehortes.