Plakate sind ausdrucksstarke Indikatoren sozialer Verhältnisse. Sie spiegeln in unmittelbarer Weise veränderte Haltungen und Werte der sie rezipierenden Gesellschaft wider. Der Imagewandel der industriellen Entwicklung etwa lässt sich am Beispiel des Symbols des rauchenden Schlotes gut veranschaulichen. Vor allem sind die diesbezüglichen politischen Konnotationen überaus aufschlussreich. Bereits das 1882 erschienene Vorlagenwerk „Allegorien und Embleme” enthält ein von Franz von Stuck entworfenes Wappen, auf dem die Industrie in Form eines qualmenden Kamins visualisiert wird. Dicke Rauchfahnen als Zeichen wirtschaftlichen Erfolges dominierten von da an für lange Zeit die bildliche Selbstdarstellung großer Unternehmen. Doch nicht nur die an der rußigen Welt der Schwerindustrie orientierten Wirtschaftszweige, sondern auch Firmen wie Klavierfabriken oder gar Vertreter der Lebensmittelsparte wollten ihre Solidität mit dicken Abgaswolken unter Beweis stellen.
Im Ersten Weltkrieg, der ja auch ein Kampf um das wirtschaftliche Durchhaltevermögen der einzelnen Mächte war, bekam das Bild des Fabrikschornsteines eine zunehmend politische Dimension. Die in der aggressiven Kriegspropaganda erfolgte Politisierung der Bildsprache schlug sich nach 1918 in den meisten europäischen Staaten in einer Polarisierung der Parteienwerbung nieder. Nahezu alle werbenden Kräfte bemächtigten sich des damals so offensichtlich attraktiven Motivs der qualmenden Schlote als eines nahezu idyllischen und uneingeschränkt positiven Symbols für Fortschritt, Wohlstand und Optimismus. Im Sinne des Schwarz-Weiß-Denkens der Propaganda war der qualmende Schornstein auf der Seite der Friedliebenden, und es galt, die von ihm dominierte Gesellschaft gegen feindliche Mächte zu verteidigen.
Der Bogen der dabei eingesetzten propagandistischen Bildmittel reicht von den konstruktivistisch reduzierten Plakaten der revolutionären Sowjetunion über pazifistische französische Affichen bis zur Öffentlichkeitsarbeit des gesamten politischen Spektrums der Weimarer Republik. Auf den politischen Punkt brachte es 1918 der „Werbedienst der Deutschen Republik” mit einem von Alexander M. Cay gestalteten Blatt. ,,Wo kein Schornstein raucht, wächst kein Brot!” lautete da der einprägsame Slogan. In dem ideologisch motivierten Streben, Kunst und Alltag miteinander zu verbinden, erreichte die angewandte Grafik im frühen revolutionären Russland einen bemerkenswerten qualitativen Höhepunkt. Einer der prononciertesten Vertreter dieser neuen, aktiven Szene, Dimitry S. Moor, visualisierte in seinen Entwürfen den marxistischen Kampf um die Produktionsmittel mehrmals als eine Auseinandersetzung um die rauchenden Schornsteine. Eine Ikone des internationalen Marxismus-Leninismus hat Adolf Strakhov mit seinem Plakat zum Tod Lenins 1924 geschaffen: Es zeigt den Revolutionsführer, richtungweisend, vor einer Fabrik-Skyline. Auch in Deutschland brachten die Kommunisten ein ähnliches Plakat heraus. Die nachhaltige Wirkung des Bildschemas beweist unter anderem der Umstand, dass auch die nationalsozialistische Propaganda des Jahres 1937 Adolf Hitler vor einer rauchenden Industrielandschaft posieren ließ.
Dass die eindeutig positive Belegung des hier untersuchten Symbols in Zeiten schwerer Wirtschaftskrisen und damit verbundener Arbeitslosigkeit allgemein verstanden wurde, verdeutlicht ein Plakat der „Deutschnationalen Volkspartei” aus dem Jahr 1932. Die Fotomontage, auf der ein schwarz qualmender Schlot und eine Kornähre zu sehen sind, galt auch als ein Versprechen von Arbeit und Brot: „Sozial ist – wenns Arbeit schafft.“
In den ökonomischen Mangeljahren nach 1945 beschworen die politischen Kräfte weiterhin diese nahezu heilig gewordenen Rauchfahnen der Produktivität – bis hin zu einem Plakat für die „Deutsche Industrieausstellung Berlin” aus dem Jahr 1950, das drei Schornsteine in den deutschen Nationalfarben abbildete und in den folgenden Jahren mehrmals verwendet wurde.
Das erste Anzeichen eines differenzierteren Umganges mit dem Motiv dokumentiert ein Wahlplakat der CDU aus dem Jahr 1947. „Gegen Vermassung, für Verantwortung und soziale Wirtschaft” lautet der Slogan. Die dazugehörige Illustration macht den Unterschied zwischen umweltfreundlichen Produktionsstätten und menschenfeindlichen Industrievierteln durch eine unterschiedliche Darstellung der Fabrikschornsteine deutlich. Zwar bekam das alte rechte und linke Symbol der Arbeitswelt auf den Protestplakaten der französischen Studentenrevolten des Jahres 1968 noch einmal aktuelle und positive Bedeutung, insgesamt aber verlor der rauchende Schlot mit dem zunehmenden Problembewusstsein gegenüber großindustriellen Produktionsweisen mehr und mehr an Faszination. Aus dem Zeichen für eine wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung wurde ein Symbol für rücksichtslosen Materialismus und ökologische Bedrohung.
Die kritische und alternative Politik richtete sich ab den 1970er Jahren uneingeschränkt gegen alle, die „auf Seiten der Schornsteine” standen. Die Demonstranten von „Greenpeace” bestiegen wiederholt hohe Schornsteine als Symbole für die Luftverschmutzung und hissten darauf Transparente für mehr Umweltbewusstsein. Während sich die Großparteien zunehmend ökologischer Anliegen annahmen und weit davon entfernt waren, die rauchenden Schlote als positive Signale in ihrem propagandistischen Reservoir beizubehalten, spielten Plakataktivisten wie Klaus Staeck bewusst mit dem absolut negativ gewordenen Bild des die Luft verpestenden Fabrikschlotes. Eines der in diesem Zusammenhang kritischsten Blätter seiner Produktion zeigt zur Feier des 1. Mai eine giftqualmende Industrielandschaft, kommentiert mit den Worten des traditionellen Arbeiterliedes: „Brüder zur Sonne, zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor.”
Denscher, Bernhard: Rauchende Schlote, zufriedene Menschen. Mythen der Industriekultur, in: Magie der Industrie. Leben und Arbeiten im Fabrikszeitalter, Wien 1989, S. 34ff.
Denscher, Bernhard: Symbol der Industrie: Der rauchende Schlot, in: PlakatJournal 1997/1, S. 7ff. Den Herausgebern von PlakatJournal, René Grohnert und Jörg Weigelt, wird für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Beitrages in deutscher und englischer Sprache gedankt.