Erschließungswissen und Kontextwandel

Abbildung nach einem Foto von Wikipedia

Wenn Auftraggeber, Gestalter und Betrachter von Plakaten im gleichen Zeitraum und im gleichen kulturellen Umfeld leben, sollte es nicht schwer sein für den Betrachter, die „Plakatsprache“ zu dekodieren, denn das Plakat will ja verstanden werden mit seinem Anliegen. Da sich alle auf die gleichen medialen Quellen berufen, die aktuell diskutierten Ereignisse und die agierenden Personen kennen, können sie Zitate, humoristische Einlagen etwa oder zweideutige Anspielungen aus einem vertrauten Kontext zuordnen und deuten.

Dieser Kontext geht aber mehr oder minder verloren je weiter man sich aus der Zeitebene des Plakats entfernt – die Älteren unter uns können sich vielleicht nicht mehr exakt erinnern, die Jüngeren hatten nie diesen Kontakt. Was also bleibt ist die Oberfläche, die Konstruktion der Gestaltung, Motiv, Typografie und Farbe. Wobei ja Typografie und Farbe ebenfalls Bedeutungsträger sein können oder Haltungen definieren (niemals Frakturschrift! – keine Serifen! …). Auch die Entfernung aus dem Kulturkreis trägt unter Umständen zum verflachenden Verständnis, zum inhaltlichen Verblassen oder zu Fehlinterpretationen bei.

Manchmal kann man das Erschließungswissen in Teilen wieder rekonstruieren. Trotzdem bleibt die nachträgliche Erklärung der Wirkung eines Blatts in seiner Zeit fragmentarisch, zu komplex ist das gesellschaftliche Umfeld, ohne dessen Einwirkung auf den Einzelnen die Reaktionen auf das Plakat kaum schlüssig nachzuvollziehen sind.[1]

Trotzdem ergeben sich immer wieder interessante Sichtweisen, wenn man versucht das Erschließungswissen der Zeit wieder zusammenzubinden, um die damalige Wirkung und Reaktionen verstehen zu können. Noch interessanter wird es, wenn Bilder oder Worte auf älteren Plakaten auf einmal eine Assoziation in der Gegenwart auslösen. Es gibt Plakatslogans, deren direkte Aktualität man sich nicht gewünscht hätte[2], andere Assoziationen kommen manchmal auf den zweiten Blick und suchen sich dann ihren Weg.

Als Beispiel dient folgendes Plakat: It’s time to fly to Hanoi.

Rambow+Lienemeyer (Gestaltung und Fotografie: Gunter Rambow; *1938 | Mitarbeit: Gerhard Lienemeyer; *1936): It’s time to fly to Hanoi, Deutschland (BRD), 1968, Siebdruck von Domberger, Filderstadt, Foto: Deutsches Plakat Museum im Museum Folkwang © 2022 Gunter Rambow

Eine offenbar tote Fliege, umrahmt von den Worten „It’s time to fly to Hanoi“ lässt den heutigen Betrachter im ersten Augenblick eher etwas ratlos zurück. Im zweiten Blick verbindet sich das Jahr (1968) und das Wort Hanoi vielleicht mit dem Vietnamkrieg. Weiter aber geht die Erkenntnis vermutlich zunächst nicht. Das stellte sich im Jahr 1968 anders dar. Die Codierung wurde leichter entschlüsselt. Denn der Vietnamkrieg war auch ein Medienereignis, Journalisten konnten weitgehend frei berichten, waren noch nicht „eingebettet“ (embedded journalism). So wurde auch über das modernste Waffensystem, die Luftwaffe, umfänglich berichtet, u.a. auch über deren Verluste. Man darf also davon ausgehen, dass diese Themen aus verschiedensten Quellen und in unterschiedlichen Bewertungen in der Gesellschaft kursierten.

Zunächst fühlten sich die US-Air Force Piloten in ihren Flugzeugen sicher, da die nordvietnamesische Armee anfangs keine große Bedrohung auf diesem Gebiet darzustellen schien. Man baute zahlreiche Luftstützpunkte auf, von denen die Maschinen zu ihren Einsätzen starteten. Dies galt auch für die Andersen Air Force Base (Andersen AFB) auf Guam, die im Vietnamkrieg zur B-52 Basis ausgebaut wurde. Von hier aus starteten die Langstreckenbomber zwischen 1965 und 1973 um Ziele, vor allem in Nordvietnam zu bombardieren. Die Piloten dieser Maschinen hatten mit dem Satz „It’s time to fly to Hanoi“ ihr Motto gefunden. Die Mannschaften fühlten sich recht geschützt in ihren Maschinen, denn sie flogen in bis zu 14.000 m Höhe, kein Geschoß konnte ihnen bis dorthinauf folgen – dachte man. Eine entscheidende Waffe in der Luftabwehr Nordvietnams wurde aber die, seit den 1950er Jahren in der Sowjetunion entwickelte, Flugabwehrrakete mit der Bezeichnung S-75 (SAM). Sie erreichte Einsatzhöhen von bis zu 16.000 m und wurde so zum Ende der 1960er Jahre eine ernstzunehmende Bedrohung, für die B-52 Bomber. Tatsächlich verloren die USA in dieser Zeit 31 Flugzeuge vom Typ B-52, 17 davon als Folge von Kampfhandlungen, 14 gingen bei verschiedenen Flugunfällen verloren.

Aber auch andere Luftabwehrsysteme für niedriger fliegende Flugzeuge verursachten im Laufe des Krieges kampfbedingte Verluste von mehreren tausend Fluggeräten aller Art bei den US-Streitkräften, so dass der Abschuss von Flugzeugen und Hubschraubern auch medial zu einem wichtigen Teil der Berichterstattung und Propaganda wurde. Dazu kamen immer auch noch die Verluste durch Unfälle.

Vor allem wurden die Bombardierungen als grausam wahrgenommen, wenn sich der Einsatz auf zivile Ziele richtete, Napalmbomben oder chemisch/biologische Kampfstoffe wie „Agent Orange“ zur Entlaubung der Wälder zum Einsatz kamen. Unter anderem an diesen Bombardierungen entzündete sich die Anti-Vietnam-Kriegsbewegung in den USA und in Europa.

In dieses Umfeld hinein und aus einer deutlichen Haltung gegen den Vietnamkrieg heraus, ist das Plakat als Eigenauftrag entstanden. Letztlich war es eine spontane Idee, die aus zwei kleinen Ereignissen ein Plakat mit großer Symbolkraft entstehen ließ. Wie Gunter Rambow berichtete, hat ihn der Spruch „It’s time to fly to Hanoi“ in einer kurzen Notiz in der „Frankfurter Rundschau“ inspiriert. Als er wenig später genau mit dieser Zeitung eine Fliege erschlagen hat, da kam alles zusammen, die Hasselblad wurde in Stellung gebracht und die Fliege großformatig abgelichtet. Der Siebdruck entstand dann bei Domberger in Filderstadt und wurde auch dort vertrieben. Der Verkauf lief gut, die Metapher wurde offenbar verstanden.[3] Und in der Tat hing das Plakat sehr häufig dort, wo man den Vietnamkrieg zumindest kritisch betrachtete.

Solche Hintergründe lassen sich heute vordergründig nicht mehr ohne Weiteres ablesen. Umso wichtiger scheint es, das Wissen um Entstehungszeit und -ort, die Reaktionen und Reflektionen in ihrer Zeit zu rekonstruieren um zu verstehen, warum dieses oder jenes Blatt entstanden ist und welche Bedeutung es erlangt hat. Manchmal bekommt ein historisches, im Plakat verarbeitetes Ereignis eben auch eine neue Aktualität.

[1] Siehe dazu auch: Das Plakat im Kontextwandel – eine beispielhafte Untersuchung – Austrian Posters.
[2] Zum Beispiel: Willy Petzold (1885–1978): Spare Gas für die Rüstung, 1944, oder: Heinz Oskar Schiffers (1902–1976): Nahrung ist Waffe, 1943.
[3] Telefonische Auskunft von Gunter Rambow an den Autor vom 12.8.2022.