Mode und Placate

Josef Maria Auchentaller, Detail aus dem erwähnten Plakat aus dem Jahr 1898

Sehr gescheite Leute, wenn auch keine Pädagogen von Fach, haben zu jeder Zeit behauptet, daß Kinder mehr auf dem kurzen Wege von und zur Schule lernen, als in den Stunden des  Unterrichts auf der Schulbank. Die Kenntnisse, welche sie auf der Straße auflesen, sind oft gerade diejenigen, welche sie im Kampfe ums Dasein, der für Viele so früh beginnt, am nothwendigsten brauchen. Man ahnt oft gar nicht, welchen Aufwand von Vorsicht, Klugheit und Gewandtheit man von einem Kinde fordert, das früh zur Zeit der Marktzufuhr und Mittags im ärgsten Geschäftsgewühl die belebtesten Straßen der Stadt durchqueren muß. Die Eltern thun trotzdem gut daran, die Schulkinder sobald  als nur immer möglich allein gehen zu lassen – denn nur so erwerben sie sich die Selbstständigkeit, deren sie als künftige Großstädter so sehr bedürfen. Die neue Zeit hat aber die Schule auf der Straße auch mit anderen Lehrmitteln ausgestattet, die freilich nicht immer für die Kleinen passen, die aber viel mehr benützt werden als es im Allgemeinen den Anschein hat. Es sind dies die Placate, hauptsächlich die großen, in starken Farben prangenden, vor denen man nicht erst stehen zu bleiben braucht, um sich das, was sie darstellen, einzuprägen, denn ihre kräftigen Linien und Farben üben starken Eindruck, der sich beinahe an jeder Straßenecke erneuert.

Gegen die Placate von heutzutage kann sich Niemand wehren, sie prägen sich den im eigenen Wagen Vorüberfahrenden ebensogut ein, wie denen, welche Tramway und Stellwagen benützen, aber am vertrautesten sind sie natürlich den Leuten, die immer zu Fuß gehen. Marktschreierisch, wie sie sind, möchten wir sie doch um keinen Preis missen, denn ihre Wirkung ist immer erheiternd und belehrend. Namentlich jetzt, wo kilometerlange Strecken eingeplankt werden, müßte dem Fußgänger der Weg unerträglich lang dünken, wenn nicht die Bildergalerie auf der Straße ihn angenehm kürzte. Den Armen aber, die sie auf ihren mühseligen Geschäftswegen aufmerksam betrachten, sind sie weit mehr als wir vermuthen. Ihnen gehen sie in Fleisch und Blut über. Das Lehrmädchen der Schneiderin, das geradeso von einer glänzenden Zukunft träumt, wie die verarmte Hofrathstochter, hilft mit den Placaten ihren Vorstellungen des erträumten Wohllebens nach – sie sieht sich im kühnen Schwunge Schlittschuhfahren, sie sieht sich radeln mit einer kleidsamen halb männlichen Toilette, sie schlürft in der blaßlila Ballrobe Sect, sie sieht sich in altdeutscher Tracht auf einem Costümballe – und das Alles greifbar deutlich, denn die lebenswahren Bilder der Placate verleihen ihrer Phantasie Flügel. Sie lernt wol auch ihren gegenwärtigen Stand, ihr armes Fähnchen von einem Kleide, ihren fadenscheinig gebürsteten Kragen verachten, denn aus ihrem Ebenbilde weiß. selbst der Placatenmaler nichts zu machen, der doch sonst Alles und Jedes seiner Kunst dienstbar macht.

Als wahres Modejournal lassen sich die Placate von den arbeitenden Mädchen benützen – das Placat belehrt sie über das, was an ihnen schön und malerisch ist; es zeigt ihnen, daß sie die Attribute ihrer Fertigkeiten nicht verschämt verbergen sollen, sondern daß dieselben ihnen eine Eigenart verleiht, die ihre volle Berechtigung und ihren Reiz hat. Das Ladenfräulein, die Kellnerin, die Typewriterin, die Wäscherin, sogar die Zeitungsausträgerin  finden sich idealisirt dargestellt auf den Mauern von Wien. Idealisirt aber nur insoferne, als alle ihre Eigenheiten stark ausgeprägt dargestellt sind. Ladenfräulein und Buchhalterin sind wie Docken gedrechselt und aufs feinste frisirt, die Kellnerin ist flink wie ein Vogel und trägt eine Unzahl Biergläser auf einmal, die Wäscherin ist frisch gewaschen und gestärkt, daß sie die Augen blendet, und die Zeitungsausträgerin weiß aus ihrem Kopftuch und der Schürze so viel eigenartige Eleganz, zu schöpfen als ihre begünstigteren Schwestern aus kostbaren Stoffen. Die Zeichner dieser Figuren und Figürchen haben sich streng an die Wiener Originale gehalten, aber das Placat verlangt einen gewissen Grad von Uebertreibung in der Farbe sowol als in der Form. So wurden die Frauen und Mädchen auf den Placaten zierlicher, fescher, kecker als die Originale und behielten doch die Aehnlichkeit  mit ihnen bei. Die Originale aber fühlten sich geschmeichelt, und unwillkürlich drängte es sie, den Vorbildern nachzustreben. Bis es wieder Zeit war, neue Placate zu zeichnen, hatten die Maler Originale vor sich, welche schon fescher waren als die alten verblaßten Bilder. Wieder mußte der Pinsel die Contouren übertreiben, die Farben mußten noch blendender aufgelegt werden. Dieses gegenseitige Ueberbieten dauert nun schon einige Jahre und hört wol nicht so bald auf: „Die Welt wird schöner mit jedem Tag, wer weiß, wie das noch enden mag!”

Aber nicht nur arme arbeitende Mädchen lassen sich von den Placaten beeinflussen – die Wirkung derselben erstreckt sich auf weite Kreise. Oder sollten die Placate nichts zu thun haben mit der sportsmäßigen Kleidung unserer Radfahrerinnen? So Manche, die noch vor ein paar Jahren vor der Zumuthung, in Beinkleidern auf der Straße zu erscheinen, entsetzt zusammengeschreckt wäre, besteigt jetzt auf der Ringstraße mit heiterem Gleichmuthe ihr Rad und braucht nicht zu fürchten, daß ihre Rockfallen an der Kette hängen bleiben, denn sie hat eben keine Rockfalten mehr. Die Placatenmauern zeigen uns Radfahrerinnen in allen Farben und allen Stellungen, von der decolletirten in kurzen Aermeln, die in carmoisinrothem Sammt dem Tode entrinnt, bis zu jener, welche sich kühn aufs Gouvernal der Freundin geschwungen und mit unvergleichlicher Grazie diesen gefährlichen Sitz bewahrt. Neun Zehntel der Placatradlerinnen haben Höschen und Gamaschen oder schwarze Seidenstrümpfe an. Diese täglich hundertmal beobachtete Proportion läßt den Rock der Radfahrerin geradezu als prüd erscheinen – man ist ja noch immer sehr hausbacken mit Girardi-Hut, Blouse und dem Etou-Jaquet, wenn man auch Höschen trägt, vergleicht man sich nur einen Augenblick mit der ersten besten Placat-Radlerin. Auch die verzauste Frisur à la Botticelli hat uns das Placat näher gerückt, man sieht sie auf den Köpfen der Vorstädterinnen in den Auslagekasten der Photographen. Da ist namentlich ein Placat, das Schule machen wird, wegen der lockenden Grazie in der Haltung der rothen Dame, die es schmückt. Schlank zum Abbrechen in der Mitte, drückt sie die Brust heraus, den Leib hinein und streckt die modisch dünnen Arme weit auseinander, biegt den rothblonden Kopf zurück, als gelte es, einem geliebten Freunde den Willkommsgruß zu bieten. Die Schöne im rothen Kleide hält aber nur Haarfärbemittel für die Greise im Hintergründe in ihren ausgestreckten Händen. Ein wahrer Künstler hat die moderne Pose in diesem Bilde fixirt, und manche Frau wird sich in derselben überraschen, ohne vielleicht zu ahnen, daß sie unter dem Eindrucke eines gut gezeichneten Placates steht.

Wenn nicht alle Zeichen trügen, so werden unsere Damen in diesem Sommer, was die Pracht der Farben anbelangt, die Placate in Schatten stellen. Die Toiletten sind noch nicht angefertigt, man beschäftigt sich eben erst mit der Auswahl derselben und man rechnet offenbar auf einen heißen Sommer. Die hellsten und duftigsten, ja ganz durchsichtige Stoffe sind die beliebtesten. Man ist der Einfachheit wieder einmal überdrüssig geworden und will großen Putz entfalten — Säumchen und Fälbchen, Schärpen und Krausen, Gebauschtes und Gepufftes, Carrirtes und Gestreiftes. Dazu kommen Hüte in verrückten Formen, die verdrückten Körbchen und ausgehöhlten Melonen ähnlich sehen und auf denen sich riesige Bandschleifen, Blumen und Federn Stelldichein gegeben und sich eng an einander halten müssen, um überhaupt Platz zu finden. Auf den Prachtstücken unter den Hüten schwingen sich die Schweiffedern des Paradiesvogels. Die Bänder sind wie die Schirme entweder sehr grell, grün, gelb, roth und lila – am liebsten lila — meistens aber carrirt wie Anno dazumal, als der Großvater die Großmutter nahm und die Bandfabriken am Neubau florirten. Matt ist gar nichts, sondern Alles „glacé“, wie die Schneider sagen, das heißt, es muß Alles glänzen, damit die Leuchtkraft der grellen Farben noch erhöht werde. Eines bleibt in der heurigen Sommermode noch ein Geheimniß: Was werden die Damen mit ihren schlanke Hälsen machen? Wie werden sie sich ohne den aufgestellten Pelzkragen, ohne die Federboa behelfen? Wie aus einer Centifolie ragte das Gesicht allein aus allen den Zuthaten zur Toilette, welche die Wintermode erfunden hat – es war hübsch und es war warm. Was wird sich da Sommerliches anbringen lassen?

Die Herren zeigen sich schon ohne Ueberzieher – dem herrlichen Kleidungsstück, das namentlich den Kleinen so schön sitzt, daß sie wie wandelnde Mehlsäcke ausschauen. Sie gleichen in der Sommertoilette mehr als je ihren eigenen Großvätern. Die jüngsten tragen die längsten und schwärzesten Salonröcke, dazu Hemdkrägen, die rückwärts viele Centimeter über dem Rockkragen sichtbar sind, und Cravaten, deren altväterische Farben sich zu einem Riesengefältel über die Hemdbrust bauschen. Alte junge Herren! In wenigen Tagen werden alle Toiletteblüthen aufgebrochen sein, und Wien wird seinen Frühling auf der Straße feiern.
B.W.
Neue Freie Presse, 9. April 1898, S. 6. (Die originale Rechtschreibung wurde beibehalten)