„Die sprechende Plakatsäule“

Wien, Blick aus der Schottengasse auf den damaligen Maximilianplatz mit Votivkirche, um 1905

„Der Darsteller steckt in einer Plakatsäule, sodass dem Publikum nur der Kopf sichtbar ist“ – so steht es, als eine Art Regieanweisung, in einem Manuskript, das im Jänner 1908 bei der „K.K. Polizei-Direktion in Wien“, die als Zensurbehörde fungierte, zur Genehmigung eingereicht wurde[1]. Der Autor des knapp neun Seiten umfassenden Textes, Carl Kaufmann, hatte den Ein-Personen-Sketch mit dem Titel „Die sprechende Plakatsäule“ für das Programm des Ensembles des populären „Gesangskomikers“ Rudolf Blümel verfasst. Ob Kaufmann selbst – der auf dem Titelblatt als „Charakterkomiker“ firmiert –, ob Blümel oder ob ein anderes Mitglied der Truppe bei den Vorstellungen als sprechende Plakatsäule aufgetreten war, ist nicht bekannt. Aufgeführt wurde der Sketch wohl in einem der Wiener Vorstadt-Vergnügungslokale[2] – möglicherweise im „Etablissement Mandl“ im 17. Bezirk (Hernalser Hauptstraße 32), das (bis es dann 1910 in ein Kino umgewandelt wurde) ein bevorzugter Auftrittsort[3] von Blümels Truppe war.

Der Text, der in der Theaterzensur-Sammlung des Niederösterreichischen Landesarchivs in St. Pölten verwahrt wird, macht deutlich, dass Litfaßsäulen zu Beginn des 20. Jahrhundert noch als sehr markantes Element im Stadtmobiliar wahrgenommen wurden – und sich damit auch dafür eigneten, auf einer Varietébühne im Mittelpunkt einer Schilderung städtischen Lebens zu stehen. Die „sprechende Plakatsäule“ erzählt – in wienerisch gefärbter Diktion – davon, was sich im Laufe eines Tages rund um sie ereignet. Sie sei, so betont sie zu Beginn, „die stadtbekannte Schottenthor Plakatsäuln“ und verweist damit auf einen durchaus prominenten Standort, nämlich den nach einem früheren Stadttor benannten Kreuzungsbereich von Ringstraße, Schottengasse und Währinger Straße. Seit vierzig Jahren stehe sie schon dort, so die Säule. Das macht sie zu einer der ältesten Vertreterinnen ihrer Art in der k.k. Haupt- und Residenzstadt, denn in Wien wurden die ersten Litfaßsäulen um 1870 aufgestellt.

Die erste Begegnung im Tagesablauf der Säule ist jene mit dem Plakatierer, der „in aller Gottesfruah“ mit seinem Karren komme, um die neuesten Plakate anzukleben: „Was Sie suchen können Sie an mir entdecken / Obn unten vorn und hint und in der Mitt / Unterhaltung & Vergnügen an allen Ecken / obn unten vorn und hint und in der Mitt!“ – so beschreibt die Säule ihr Aussehen. Dass ihr Inneres als Aufbewahrungsort für Utensilien zur Straßenreinigung dient, geht aus der zweiten Begegnung hervor. Denn nach dem Plakatierer kommt der Straßenkehrer: „An Schlüssel steckt er in mich hnein / Sperrt auf und schlieft mir hinten hnein / Die Tür bleibt ofen eine Weil / Mir wird ganz kalt im Hinterteil! / Der Strassenkehrer meine Herrn holt sich jetzt seinen Besen / Mein Bauch ist nämlich über Nacht auch Amtslokal gewesen!“.

Von ihrem Standort aus kann die Plakatsäule vielerlei beobachten: So etwa den Aufmarsch der Burgmusik oder die Auseinandersetzungen von Studenten, die aus der gegenüberliegenden Universität kommen: „Auf der rechten Seite tun die Deutschen hrumspazirn! Auf der Maschekseiten[4] sieht man Böhmen promenirn / Auf der einen Seite singen sie die Wacht am Rhein[5] / Auf der andern Seite hört man domov muj[6] sie schrein! / Plötzlich auf einmal is der Teufel los / Es gibt einen Krach, an Zusammenstoss / Watschen fliegn in der Luft nur her und hin / Segns so gmütlich san die Leut in Wien!“ Dieser Hinweis auf die Nationalitätenkonflikte der Habsburgermonarchie zeigt, dass in den scheinbar so harmlosen Text durchaus auch aktuelle politische Anspielungen einflossen.

Wien, Markt und Plakatsäule auf dem Platz Am Hof, Mai 1910 (Österreichische Nationalbibliothek, Inv. Nr. 97.435B)

An der Plakatsäule kommen im Laufe des Tages viele verschiedene Personen vorbei – unter ihnen auch ein Schneidergeselle, der mit seinem „Schatz“, einer Köchin, ein Rendezvous vereinbaren will. Dafür findet er auf der Plakatsäule einen speziellen Übermittlungsweg, denn „der schreibt ihr net per Post / Weil das zehn Heller kost / Ums Porto ist ihm lad / Drum schreibt er aufs Plakat!“ Einige Zeit später kommt dann die Köchin vorbei und, so berichtet die Plakatsäule: „Lest auf mir den Brief bequem!“

Dass Plakate auch dafür verwendet wurden, um darauf private Nachrichten zu schreiben, war eine offenbar nicht unübliche Erscheinung. Ein Hinweis darauf findet sich auch in einem Beitrag des „Prager Tagblatts“ über eine Plakatsäule in Hannover, die von „Liebesleuten“ zum Treffpunkt und „Sprachrohr“ gemacht werde: „Sie notieren einfach auf den Plakaten – wozu sind diese denn da? – mit Bleistift, was sie auf dem Herzen haben: ‚Max, ich bin sehr böse auf Dich, habe über eine Stunde gewartet. Ella‘ […] Aber auch mit kurzen Zeichen begnügen sich die Liebenden, wie z.B.: ‚3/4 11, M.K.‘ oder: ‚Bin zu Hause. A.‘ So ist die Plakatsäule bei Kröpcke in Hannover immer der Gegenstand der größten Aufmerksamkeit aller jungen Leute, die selbstverständlich für alles andere, nur nicht für die Plakate Interesse zeigen.“[7]

Carl Kaufmanns Text „Die sprechende Plakatsäule“ ist auf dem Titelblatt als „Original-Quodlibet“ bezeichnet, d.h. er wurde im Wesentlichen gesungen, als Mischung unterschiedlicher Musikstücke vorgetragen. Welche Melodien dabei verwendet wurden, ist zum Teil aus Anspielungen erschließbar: So etwa heißt der Schneidergeselle, der Plakate als Briefersatz verwendet, Nechlediel und wird als „schöner Mann“ beschrieben, was auf den „Nechledil-Marsch“ aus der Operette „Wiener Frauen“ (Musik Franz Lehár, Text Hans Bergler) verweist. Wenn am Abend rund um die Säule „Glühlampen Glühlampen flimmern / Glühlampen Glühlampen schimmern“, so bezieht sich das musikalisch auf das „Glühwürmchen-Idyll“ aus der Operette „Lysistrata“ von Paul Lincke (Text Heinrich Bolten-Baeckers). Das Treffen eines Liebespaares an der Plakatsäule ist mit Namen und Zeilen aus Linckes „Frau Luna“ (Text Bolten-Baeckers) und Lehárs „Die lustige Witwe“ (Text Victor Léon u. Leo Stein) musikalisch gekennzeichnet, und zum Aufmarsch der verfeindeten Studentengruppen sind wohl die „Wacht am Rhein“ und „Kde domov můj“ erklungen.

[1] Kaufmann, Carl: Die sprechende Plakatsäule. Concession Rudolf Blümel. Maschinschriftliches Dokument. 1908. NÖ Landesarchiv, NÖ Reg. Präs Theater TB K 003/06.
[2] Die im Text zum Ausdruck kommende Perspektive ist die von der Vorstadt in Richtung Innenstadt (nach „drinn“, wie der entsprechende Ausdruck im Text lautet).
[3] So etwa feierte Blümel am 2.2.1909 seine 500. Vorstellung im „Etablissement Mandl“.
[4] „Maschekseite“ ist ein im Wienerischen gebräuchlicher Ausdruck für die entgegengesetzte Seite bzw. die Rückseite. Etymologische Herkunft aus dem ungarischen „másik“ = andere.
[5] Das Lied „Die Wacht am Rhein“ (Text Max Schneckenburger, Musik Carl Wilhelm) war eine Art inoffizieller deutscher Nationalhymne.
[6] Das Lied „Kde domov můj“ („Wo ist meine Heimat?“, Text Josef Kajetán Tyl, Musik František Škroup) war zur Zeit der Habsburgermonarchie die Hymne Böhmens und ist nunmehr die Hymne der Tschechischen Republik.
[7] Prager Tagblatt, 3.9.1912, S. 3.